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Vor die Wand?

Momentan sieht es ganz so aus, als könnte die rot-rot-grüne Perspektive schon lange vor der Wahl scheitern. Auf der einen Seite nimmt die Gegenbewegung Fahrt auf. Wie zu befürchten war, zerlegen sich auf der anderen Seite die linken Kräfte in Deutschland mal wieder selbst (https://www.myview-wolfgangmebs.de/jubelarien-und-zahneknirschen/), und das zu einer Zeit, in der die Chancen für einen Kurswechsel in der deutschen Politik so groß sind – oder muss man schon sagen: waren? – wie lange nicht mehr.

Dass die Grünen nach der Euphorie der Wahl Annalena Baerbocks zur Kanzlerkandidatin in der Wählergunst wieder verlieren würden, ist nun wirklich nicht überraschend. Dass sie keine Lichtgestalt ist, genauso wenig. Die Sezierung ihrer Person begann noch am selben Tag. Jeder Politiker, jeder Journalist rechts der Grünen suchte nach irgendetwas, mit dem man ihr am Zeug flicken konnte. Bedauerlich ist allerdings, wie leicht sie es ihren Gegnern gemacht hat, sie zu diskreditieren.

Wobei allerdings anzumerken ist, dass Baerbocks Verfehlungen bezüglich ihres Lebenslaufs oder der Sonderzahlungen ihrer Partei absolute Kinkerlitzchen sind, Marginalien angesichts dessen, was sich nicht nur in den letzten Monaten in CDU und CSU abgespielt hat. Dennoch ist es gelungen, kräftig an ihrem Image zu kratzen. Von Welt bis Münchener Merkur zeigt man mit dem Finger auf sie, als wären zu spät gemeldete (versteuerte) Zahlungen dasselbe wie Korruption und Steuerhinterziehung in sechs- und siebenstelliger Höhe, und in den sozialen Medien wird gehetzt und gefeixt: Seht ihr, die ist auch nicht anders als der Rest.

Auch die Propagandamaschinerie gegen die Grünen generell läuft mittlerweile auf Hochtouren. Allen voran die Speerspitze der neoliberalen Ideologen, die Initiative neue soziale Marktwirtschaft (INSM), finanziert von der Elektro-, Metall- und Automobilindustrie. Ihre Kampagne („Wir brauchen keine Staatsreligion.“) arbeitet auf so unverschämt offene Weise mit glatten Lügen und Halbwahrheiten über das grüne Wahlprogramm, dass man wirklich fragen muss, warum an sich nicht unseriöse Zeitungen (wie die Süddeutsche und die Zeit)diese großseitigen Anzeigen schalten. Die Angst vor der grünen Ökodiktatur sitzt offenkundig tiefer als die vor der ungehemmten Macht der Kapitalinteressen und der Angst, nicht mehr im Jet von Frankfurt nach München oder hin und wieder mit 180 über die Autobahn fliegen zu dürfen. Und das Zähneklappern angesichts höherer Benzin-, Schnitzel- und T-Shirtpreise ist um ein Vielfaches lauter als die geflüsterte Sorge um die Umwelt zukünftiger Generationen.

So weit, so erwartbar. Leider muss man mit Entsetzen feststellen, dass auch am anderen Ende des politischen Spektrums alles getan wird, um die derzeit einzig zukunftsweisende Koalition zu verhindern. Eigene Fehler schaden dem Image. Umweltaktivisten attackieren die Grünen und halten sie wegen mangelnder Radikalität für nicht wählbar. Und jetzt auch noch das: Die Linken verabschieden sich endgültig aus dem Wahlrennen und aus allen Szenarien für eine linkere Politik in Deutschland.

Schon in den letzten Wochen machten mehrere Politiker der Linken von Sahra Wagenknecht bis Amira Mohamed Ali deutlich, dass für sie, wie ja leider traditionell, der Feind vor allem links steht. Statt jetzt die Kräfte zu bündeln und dem Wähler klar und eindeutig zu sagen: wenn ihr für eine sowohl ökologische wie soziale Trendwende seid, dann wählt uns, bekämpft man sich lieber gegenseitig und schießt mehr Breitseiten gegen Grüne und SPD als gegen den Rest.

Unter anderem werden gerade von linker Seite, im Bundestag, in der Presse, wie in den sozialen Medien immer wieder alte Süppchen aufgewärmt, allen voran die Unterstützung der Mehrheit der Bundestags-Grünen für den Kriegseinsatz in Bosnien bis zu den Hartz-Gesetzen. Tenor: die verraten doch ohnehin sofort alle ihre hehren Grundsätze. Denen ist nicht zu trauen. Die kann man nicht wählen. Das erinnert mich immer an Fußballkommentatoren, die vor einem Spiel Statistiken bemühen, um zu belegen, dass die eine Mannschaft eigentlich keine Chancen hat, weil sie 70 % aller Spiele gegen das andere Team verloren hat. Als wären das immer noch dieselben Spieler!

Die Mehrheit der SPD denkt heute anders als 2003. SPD und Grüne haben Fehler erkannt und zugegeben und wollen sie korrigieren. Sollte man diesen neuen Politikern nicht zunächst einmal Ernsthaftigkeit zugestehen, statt sie schon zu verurteilen, bevor sie überhaupt die Chance bekommen haben, das zu beweisen? Und sollte man eine Regierungszeit wirklich nur an zwei Themen messen und alles andere, auch die ebenso zweifellosen Erfolge, etwa in der Atompolitik oder der Stellung von Minderheiten vom Tisch wischen?

Und jetzt auch noch das. Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine fischen nicht zum ersten Mal mit Aussagen zu Arbeitslosen und Flüchtlingen im rechten Lager. Nun aber übertrifft sich Lafontaine selbst an Dreistigkeit und politischer Dummheit und zerdeppert massenweise politisches Porzellan. Nicht genug, dass er sich mit ausländerfeindlichen und rassistischen Autoren wie Thilo Sarrazin auf ein Podium setzt – das wäre ja akzeptabel, solange man miteinander diskutiert und fragwürdige Positionen aufzeigt und kontert – aber nein, Lafontaine schlägt auch noch auf widerwärtige und menschenverachtende Weise in dieselbe Kerbe wie Sarrazin und Gauweiler: Er könne einer Sozialrentnerin nicht guten Gewissens erklären, dass der deutsche Staat für jedes unbegleitete Flüchtlingskind 5.000 € aufbringe.

Wessen Zustimmung erheischt Herr Lafontaine mit dieser Bemerkung? Mit Sicherheit nicht die derer, die der Meinung sind, dass jedem Notleidenden geholfen werden soll. Wer auf so schäbige Weise die hilflosesten Opfer der vom reichen Norden – also auch uns – mitverantworteten Flüchtlingskrise gegen deutsche Rentner ausspielt, der orchestriert nationalpopulistische Kampagnen der Rechten. Und mir kann keiner erzählen, Lafontaine wäre senil und sich dessen nicht bewusst.

Insbesondere da er folgerichtig auch noch einen draufsetzt und aufgrund seiner narzisstischen Kränkung im saarländischen Richtungsstreit mit Thomas Lutze allen Ernstes dazu aufruft, der eigenen Partei die Stimme zu verweigern. Ein Stück aus dem politischen Tollhaus.

Was bedeutet das nun für die Bundestagswahl? Zum einen muss man sich fragen, was denn die Alternative sein soll dazu, sich voll und ganz für rot-rot-grün einzusetzen. Mindestens vier weitere Jahre CDU/CSU, diesmal wieder mit der FDP? Lieber gleich wissen, dass sich nichts ändert, als das Risiko eingehen, hier und da enttäuscht zu werden? Schwarz-grün? Da ist die Enttäuschung doch garantiert und kommt für die Grünen der Hoffnung gleich, eine ganze Packung Schlaftabletten zu schlucken und dennoch zu überleben.

Zum anderen: Vergesst Ali, Wagenknecht und Lafontaine. Vergesst Schröder und Fischer. Gebt einer neuen Generation eine Chance. Richtet den Blick in die Zukunft.

Wer immer nach hinten blickt, fährt vorne vor die Wand.

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3 Antworten auf „Vor die Wand?“

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