

M O R D S S P A S S
Fast ein Kriminalroman
Morgendliche Feuchtigkeit erhebt sich aus dem weichen Waldboden und zaubert mystische Stimmung ins Bruchhausener Wäldchen. Nebel umhüllt Buchen und Stieleichen und legt einen feenhaften Schleier über Konturen und Farben. Der leblose Körper verschmilzt mit Holz und Laub, fast schon Teil der ihn umgebenden Flora. Auch die Fauna beginnt, sich für ihn zu interessieren.
Ironie des Schicksals, hat er sich doch nie als Teil der Natur gesehen, obwohl er sich oft in ihr bewegte, joggend und kletternd, mit monoton-rhythmischen Drums in den In-Ears. Der Wald, in dem er sein Ende gefunden hat, war ihm reine Staffage für die körperliche Optimierung. Vogelgesang hat ihn nie interessiert. Nun ist es zu spät. Umgeben von ihrem Gesang, kann er Amsel, Drossel und Laubsänger nicht mehr hören.
KAPITEL 1
»Mein Gott, zieht sich das. Immer noch zehn Kilometer. Kurven, Hügel, Kurven, Hügel.«
Kriminalhauptkommissar Paul Schrot mochte keine Landstraßen. Kurven schon mal gar nicht. Bei 50 km/h hatte er das Gefühl, zu Fuß zu gehen. Wenn es ihm nach ginge, würden überall Autobahnen hinführen. Ohne Tempolimit. Ohne Baustellen. Er hasste Baustellen. Auf eine fuhren sie gerade zu. Eine Ampel, mitten im Nirgendwo.
»Scheiße.«
Kriminalkommissarin Cara Lehnert lag mehr, als sie saß: die Rückenlehne weit nach hinten, die Füße auf dem Armaturenbrett. Ihre farbenfröhliche Kleidung – dunkelblaue Sneaker mit knallgelber Sohle, hellrote Röhrenjeans, beigefarbenes T-Shirt – kontrastierte effektvoll mit Pauls Standardlook: schwarze, halbhohe Lederschuhe, verwaschene Jeans, darüber trübsinniges Grau-Braun.
»Gucken Sie nicht so«, sagte Cara.
»Wie gucke ich denn?«
»Ernst.«
»Ja und? Gibt es denn was zu lachen?«
»Es gibt immer was zu lachen.«
Cara stupste ihn auf den Bizeps. »Wann lernen Sie endlich Gelassenheit, Schrot? Sie sollten ein Auge entwickeln für diese liebliche Umgebung. Was Sie an Glas, Beton und Asphalt so begehrenswert finden, ist mir schleierhaft.«
Paul schwieg angestrengt. Er fuhr sich mit beiden Händen durch seine halblangen, gewellten Haare. Er trug sie ungescheitelt und strich die immer noch dichten Strähnen hinter die Ohren.
»Sind Ihnen eigentlich schon einmal all die verschiedenen Grüntöne aufgefallen? Zum Beispiel da vorne, die … «
»Nein!« Paul schlug aufs Lenkrad. «Ich bin vollauf mit dieser scheiß roten Leuchte beschäftigt, die immer im selben Rotton leuchtet, kein einziges Auto kommt uns entgegen und wir stehen dämlich hier herum.«
»Dämlich? Ich nicht.«
Die Ampel verdarb ihm eine passende Antwort, indem sie auf Grün sprang. Der Motor heulte auf und Paul katapultierte sie in die Baustelle.
Als sie das Ortsschild entdeckten, setzte der Nieselregen wieder ein. Niederwinkel. Und direkt dahinter ein verwittertes Schild mit der Aufforderung: »Unser Dorf soll schöner werden.«
»Scheint ja nicht geklappt zu haben«, bemerkte Paul, als sie im Ortskern angekommen waren. Das Grau des Niesels verstärkte die trostlose Aura der verblichenen Fassaden aus Rauputz und wurmstichigem Fachwerk. Ein paar Häuser waren mit schmutzverlaufenen Klinkern verunstaltet, an anderen hafteten schartige Asbestplatten. Ein Gartentor hing schief in den Angeln. Gegenüber gab ein modriges, offenes Holztor den Blick frei auf einen ausrangierten Traktor. Einziger Lichtblick, direkt neben der kleinen Kirche mit Spitzturm und Wetterhahn, ein leicht ramponiertes Kneipenschild:
Zum D rfkru Inh. Fr nk Keyser.
»Klar«, sagte Paul. »’Ne Post gibt’s hier ja auch nicht.«
Cara sah ihn fragend an.
Er deutete auf das Schild.
»Ach so. Klar.«
»Ja?«
»Ich denk’ schon.«
»Also, da fangen wir jedenfalls an.«
»Sollten wir nicht erst mal zum Tatort?«
»Wir brauchen einen, der uns hinführt.«
»Aber wir haben doch die Koordinaten. Und die Spurensicherung ist auch schon da.«
»Da fangen wir an.«
Pauls Hoffnung auf ein kühles Bier wurde jedoch enttäuscht. Die Kneipe war schummrig erleuchtet, aber verschlossen. Ein Hinweis auf Öffnungszeiten fehlte.
»Seltsam«, sagte er.
»Das wirkt hier sowieso wie ausgestorben. Keiner zu sehen. Ich wette, die stehen alle am Tatort rum.«
Sie sollte recht behalten. Als sie sich dem Fundort der Leiche näherten, zwängten sie sich zunächst auf einer von Baufahrzeugen durchpflügten Schotterstraße an links und rechts parkenden Fahrzeugen vorbei, dann durch eine Menschenmenge, die trotz genervten Hupens nur zähflüssig eine Gasse freigab.
»Mannomann, verpisst euch«, fluchte Paul. »Euch nehme ich alle in die Mangel. Alle! Stundenlang!«
Cara lachte. Er sah sie missbilligend an. »Das war nicht lustig gemeint.«
Paul meinte selten etwas lustig. Sarkasmus lag ihm näher. Und Ironie, wenn er guter Dinge war. Zum Lustig sein fand er wenig Anlass und das lag nicht an seinem Beruf allein, dem er jetzt mit stetig nachlassender Begeisterung seit über 30 Jahren nachging. Er war Realist, mit nüchternem Blick auf die Welt – nüchtern im rein intellektuellen Sinne – und einem Erfahrungsschatz, der ihm wenig Anlass bot, ein sonniges Gemüt zu entwickeln. Dabei war er kein Misanthrop, nein, er mochte Menschen, durchaus, allerdings nur einen recht kleinen, exklusiven Teil und umso mehr, je weniger er mit ihnen zu tun hatte.
Die Leiche war am frühen Morgen gefunden worden, von den ersten Bauarbeitern, die an der Baugrube ihren Knochenjob beginnen sollten. Damit war erst mal nichts. So hatte alles auch sein Gutes.
Die örtliche Polizei hatte, zu Pauls Erstaunen, alles sofort vorschriftsmäßig abgesperrt. Er erwartete grundsätzlich das Gegenteil. Er nannte es ‚prophylaktischen Realismus‘. Erwarte immer das Schlechteste und dann und wann erlebst du positive Überraschungen. Ist nicht jedermanns Sache, aber nach Pauls Ansicht fuhr er gut damit.
Die Baustelle war mehrere Fußballfelder groß. Von einigen Gebäuden stand bereits der Rohbau, an anderen Stellen wurde an den Fundamenten gearbeitet, eine weitere Baugrube wurde ausgehoben. Sand- und Kieshügel und diverse Baumaterialien lagen überall herum. Sie gingen zu einem Mann, der hinter einem Stapel Paletten kniete.
»Hallo Gollwitz. Haben Sie schon was?«
Mittlerweile hatte sich Cara daran gewöhnt, dass Paul jeden mit dem Nachnamen ansprach und auch genau so angesprochen werden wollte. »Herr« empfand er als zu förmlich. Bisher kannte sie niemanden, mit dem er sich duzte.
Holger Gollwitz blickte hoch.
»Ach nee, der Schrot, auch schon da?« Wesentlich freundlicheren Auges sah er zu Cara. Obwohl sie erst seit einem halben Jahr bei der Mordkommission Köln arbeitete, waren sie schon mehrmals zusammen durch die Clubs in Ehrenfeld gezogen, wo er immer noch in einer WG wohnte. Seine Lockenmähne hatte er hochgebunden und steckte unter einer weißen Haube, die wie eine verhinderte Kochmütze aussah.
»Hallo Cara, schön dich zu sehen.« Sie strahlte zurück. Er wies mit abschätzigem Daumen auf Paul. »Und, hältst du es immer noch mit ihm aus? Lass dir bloß nicht die Laune verderben.«
»Keine Bange, ich habe ein fröhliches Fell. Was macht deine Ausstellung?«
»Fortschritte, gute Fortschritte. Ich habe endlich eine Galerie gefunden. Jetzt müssen wir noch die besten Fotografien auswählen.«
Holger Gollwitz verstand sich nicht als reiner Pathologe. Er verband seine Arbeit mit künstlerischen Ambitionen und machte seit Jahren seine eigenen, nicht nur kriminalistisch professionellen Tatortfotos und detailverliebte Aufnahmen seiner Ermittlungsobjekte. Vor seinem Objektiv verwandelte sich ein Folteropfer in ein fantasiebeflügelndes Aquarell. Jetzt stand sein Projekt kurz vor einem ersten Abschluss. Er nannte es »Die Ästhetik des Leichnams.«
»Das ist ja großartig«, sagte Cara. »Und wann wird die Ausstellung eröffnet?«
»Irgendwann im Herbst. Das genaue Datum … «
»Hallo, hallo. Haaallooo! Könntet ihr euch mal auf das Wesentliche konzentrieren? Und die Kurzfassung bitte, in klarer Sprache.«
Holger und Cara grinsten sich an. Sie wussten, dass Paul mit Fachchinesisch und weitschweifigen Erläuterungen auf Kriegsfuß stand.
»Potest poni … «- Paul verdrehte die Augen, Holger und Cara grinsten noch breiter – »wahrscheinlich streifte er seine leibliche Hülle gestern zwischen 17 und 19 Uhr ab. Halswirbelsäulenfraktur. Und zwar präzise und effektiv. Gerade noch rechtzeitig für meine Ausstellung. Fundort nicht Tatort. Leiche lag erst auf dem Rücken, die linke Wange in etwas Feuchtem, dann auf dem Bauch. Wurde bewegt. Suspekte Kratzspuren und Abschürfungen an Armen, Beinen und im Gesicht. Inklusive Humerusfraktur.«
»Die Schulter.« Cara zerbrach mit den Händen einen imaginären Stock.
»Schlaumeierin«, grummelte Paul und fuhr sich durch die Haare. »Vielleicht vom Transport? Oder es hat einen Kampf gegeben.«
»Ist im Moment schwer zu sagen. Einen Teil der Verletzungen hatte er schon, bevor er seine Flöte zerbrochen hat, wie der Franzose so seltsam sagt, andere scheinen ihm später zugefügt worden zu sein. Wie üblich: Genaueres nach der Obduktion. Es gibt übrigens ein paar Spuren, die man wohl versucht hat zu verwischen. Aber sehr dilettantisch«.
Sie gingen zu zwei etwas abseitsstehenden Polizisten.
»Seid ihr die örtlichen Kollegen? Weiß man schon, wer er ist?«, fragte Schrot.
»Klaus Wiczek, mein Kollege Franken.« Cara schüttelte ihnen die Hände. Paul nicht. Verbrüdernden Körperkontakt hielt er so früh für unangemessen.
»Cara Lehnert«, sie zeigte hinter sich, »Kriminalhauptkommissar Schrot.«
»Also, es handelt es sich um Florian Grewe, 28, Geschäftsführer und Gründer der Leisure World. Die bauen hier den Freizeitpark. Wir kennen ihn persönlich. Wir hatten schon öfters mit ihm zu tun.«
Paul hob die Augenbrauen. »Ach ja?«
»Ja, ziemlich regelmäßig. Es gibt ständig Ärger mit ein paar Leuten, die was gegen den Park haben.«
»Das ist ja interessant«, sagte Cara. »Und, wer ist das?«
»So ziemlich alle. Also alle aus Niederwinkel und Umgebung.«
Während Cara sich mit den Kollegen der Spurensicherung unterhielt, ging Paul langsam zurück zum Wagen. Plötzlich tauchte schräg von der Seite eine alte Frau in Grau und Schwarz auf und lief neben ihm her. Pauls Hoffnung, sie würde sich durch Ignorieren in Luft auflösen, erfüllte sich nicht. Sie überholte ihn um ein, zwei Schritte und beugte sich gleichzeitig vor, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»Sie sind also der zuständige Kommissar?«, fragte eine knarzende Stimme. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
»Ja.«
»Und das«, sie zeigte über die Schulter, »ist Ihre Assistentin?«
»Wenn Sie so wollen.«
»Wieso? Sagt man das nicht so?«
»Ich nicht.«
»Ach so. Na, ist die nicht noch ein bisschen jung?«
»Nein.«
»Aber unangemessen gekleidet ist sie schon.«
»Geht mich nichts an.«
»Und was werden Sie jetzt tun?«
»Mit den Leuten reden, die das etwas angeht.«
Paul öffnete die Wagentür, schlüpfte hinein und schloss die Tür, bevor sie ihm folgen konnte.
Nachdem sie erkannt hatten, dass es keine Chance gab, die Leiche zu sehen, zogen sich die anderen Schaulustigen nach und nach zurück.
Als sie eine halbe Stunde später schräg gegenüber dem „Dorfkrug“ aus dem Auto stiegen, blies ihnen ein heftiger Wind entgegen. Das Kneipenschild schwang hin und her und quietschte empört. Laute, erregte Stimmen drangen auf die Straße.
»He, Lehnert«, sagte Paul und deutete auf ein vergilbtes Schild in einem der offensichtlich nur zu Weihnachten geputzten Fenster, das sie beim ersten Mal übersehen hatten.
»Öffnungszeiten: Wenn ich aufschließe.
Ruhetag: Wenn ich einen brauche.«
Der Mann war Cara augenblicklich sympathisch.
Als sie den Gastraum betraten, hatten sie den Eindruck, das halbe Dorf sei versammelt. Offensichtlich gab es Redebedarf. Der allerdings abrupt gedämpft wurde, als die beiden eintraten. Wie an Fäden gezogen, blickten alle herüber.
Auch der Wirt, ein mittelgroßer, rundherum gut gepolsterter Mann, dessen bleicher Teint von einem Leben hinter der Theke zeugte, kratzte sich eine unrasierte Wange und blickte zu ihnen hinüber, allerdings eher gleichgültig, ohne eine Spur von Neugier, wie Paul feststellte.
Der Raum war von gelblichen Kugellampen eher spärlich beleuchtet, was wohl nicht nur für eine fragwürdige Art von Gemütlichkeit sorgen sollte, sondern dezent zu verbergen suchte, dass seit der Eröffnung im letzten Jahrtausend nicht mehr ins Interieur investiert worden war.
Sie setzten sich auf zwei freie Hocker am Rande der Theke, von wo sie einen guten Überblick hatten.
Cara begrüßte den Wirt mit einem heiteren, wie es Paul vorkam, fast geträllerten »schönen guten Tag«.
Der Wirt sah sie sichtlich überrascht an.
»Wieso?«
Er war Paul augenblicklich sympathisch.
»Ehm …, wieso nicht? … Ach so, verstehe. Wegen des Mordes.«
»Nee.«
»Nicht? Ach so, mehr so allgemein nicht schön.« Sie sah sich um. »Verstehe.«
»Glaub’ ich nicht.«
»Auch nicht. Na gut. Wie dem auch sei …«. Sie zückte ihren Ausweis. »Lehnert, Kripo Köln. Das ist mein Kollege Schrot. Jedenfalls, wegen des Mordes sind wir hier.«
»Und was wollen Sie da von mir?«
»Zwei Pils«, mischte sich Schrot in den schrägen Diskurs ein.
»Meine Spezialität«, sagte der Wirt und griff sich zwei Gläser. Mimik und Körperhaltung ließen keinen Zweifel aufkommen: Der Vorgang des Befüllens mit Pils erforderte seine ganze Aufmerksamkeit. Äonen später knallte er die Gläser auf fleckige Bierdeckel mit Gesichtszügen, die man eher mit ausgelaufenen Windeln oder aufgeplatzten Wasserleichen in Verbindung gebracht hätte.
Sie sahen sich um. Alle Tische waren besetzt. Man tat ins Gespräch vertieft, lugte aber ständig zu den beiden Kommissaren hinüber. Drei Männer Anfang 20 begutachteten Cara und steckten die Köpfe zusammen. Auch an den anderen Tischen saß man vornübergebeugt, als würden Geheimnisse ausgetauscht.
»Wir sind wohl anregender Gesprächsstoff«, meinte Cara.
»Kein Wunder, endlich gibt’s mal was Neues. Müssen sie ausnahmsweise nicht ständig über sich selber herziehen.«
»Na, da haben wir heute wenigstens eine gute Tat getan«, sagte sie und leerte ihr Glas. Paul bestellte mit zwei erhobenen Fingern eine neue Runde. Cara rieb voller Tatendrang die Hände aneinander.
»Herrlich. Finden Sie nicht auch, dass das immer ein ganz besonderer Moment ist, wenn man den Tatort in Augenschein genommen hat und dann, wie ein archaischer Jäger Witterung aufnimmt?«
Mit einem speerschwingenden Neandertaler hätte Paul sich niemals freiwillig verglichen und nach all den Jahren in der Mordkommission konnte er keinem neuen Fall irgendetwas Prickelndes abgewinnen.
»Da vorne sitzt das halbe Dorf, heimelig erregt ob der grausamen Tat und womöglich sitzt der Mörder direkt unter ihnen. Garantiert gibt es ein Dutzend, denen sie die Tat zutrauen würden und spekulieren miteinander und gegeneinander. Sollen wir ein paar Wanzen unter den Tischen anbringen? Was meinen Sie, Schrot?«
Pauls Blick genügte. Cara notierte eine weitere Erklärung, warum Schrot mit weniger Worten auskam als Normalsterbliche.
Was Cara zu Schrot gesagt hatte, was zwar leicht ironisch formuliert, aber ernst gemeint. Sie verspürte tatsächlich eine Art Jägerinstinkt, wenn sie einen neuen Fall übernahm. Spuren interpretieren, Ermittlungen aufnehmen, das Puzzle zusammensetzen, das Rätsel lösen. Für sie war es eine spannende, kriminalrealistische Denksportaufgabe. Sie war Kommissarin aus Überzeugung und sie liebte ihre Arbeit.
Das galt nicht für die Arbeitszeiten, aber die akzeptierte sie als unvermeidliche Nebenwirkung. Ständig in Bereitschaft sein zu müssen, machte ihr nichts aus. Wenn sie ausging, saß sie nie auf glühenden Kohlen. Wie selbstverständlich verdrängte sie den Gedanken, dass jederzeit ein Anruf kommen konnte und sie zu einem Einsatz fahren musste.
Sie war ohnehin kein Mensch, der einen regelmäßigen Tagesablauf brauchte, im Gegenteil. Abwechselung ist die Würze des Lebens; eine der vielen Weisheiten Oma Christels, ihrer deutschen Großmutter. Cara betrachtete das Leben als einen ständigen Veränderungsprozess – und genoss ihn. Sie plante wenig, nur, was absolut notwendig war; den Zeitpunkt ihres Urlaubs etwa, den sie mit Kollegen absprechen und sich danach richten musste, aber der Urlaub selbst blieb ganz ihrer Spontaneität überlassen. Ihre Freundin Sonja war letztes Jahr vier Wochen in den USA gewesen und hatte schon vor der Abreise jeden einzelnen Tag verplant – die Zielorte (natürlich die üblichen Highlights, ob sie es nun waren oder nicht), Hotels, Anzahl der jeweiligen Übernachtungen, Tickets für diverse Veranstaltungen von Musical bis Rodeo. Für Cara war so etwas völlig undenkbar. Sie hätte nichts geplant außer dem Hin- und Rückflug und vielleicht noch ein Hotel am Ankunftstag, alles andere hätte sie offengelassen. Sonja hatte sich freiwillig ein Korsett angelegt. Cara hasste Korsetts, in jeder Hinsicht.
An einem Tisch wedelte ein Mann aufgeregt mit dem Arm. »Der Herbert mal wieder«, stöhnte Keyser, der gerade ein paar Gläser spülte. »Herbert Krause. Wohnt hier gleich um die Ecke. Kommt nur zum Meckern.«
Er trocknete die Hände, warf das Handtuch über die linke Schulter und ging zu Krauses Tisch. Er stützte sich auf eine Stuhllehne und sah Krause von oben herab an.
»Frank, also ehrlich, hast du die Kühlanlage abgestellt? Das Bier ist viel zu warm. Und frisch schmeckt das auch nicht.«
»Zu warm, ja? Dann trink schneller, statt dich eine halbe Stunde an einem Glas festzuhalten. Zweitens trink’ ich das Bier selber und hältst du mich für so dämlich, altes Pils zu trinken? Und davon mal ganz abgesehen: Wenn es dir nicht passt, dann geh doch zur Konkurrenz.«
»Sehr witzig, Frank. Wirklich, sehr witzig.« Deshalb ging Keyser auch lächelnd zur Theke zurück.
»Keine Angst, Gäste zu verlieren?«, fragte Cara.
Keyser sah sie kurz an und sagte im Vorübergehen, trocken und humorlos: »Monopole haben unbestreitbare Vorteile.«
Kapitel 8
»Können Sie mal googeln, wo hier der nächste Bäcker ist?«
Paul und Cara teilten eine Vorliebe für bestimmte Backwaren. Wann immer möglich, versorgten sie sich nachmittags mit je einem Berliner Ballen und einer Rosinenschnecke. Die Müsliriegel wären für die Aufrechterhaltung der vitalen Funktionen, der Süßkram für ihr Wohlempfinden, hatte sie ihm erklärt mit einem zuckerverträumten Lächeln.
»Ist Ihnen eigentlich klar, dass jetzt auch noch Sie meine Zuckersucht auf unverantwortliche Weise fördern?«, fragte sie. »Mit allen unangenehmen Nebenwirkungen.«
»Bisher habe ich Sie nicht mit vorgehaltener Dienstwaffe zum Verzehr dieser Köstlichkeiten aufgefordert. Davon abgesehen: welche Nebenwirkungen?
»Wollen Sie behaupten, Sie hätten nicht bemerkt, dass es mir trotz regelmäßigen Joggens nicht gelungen ist zu verhindern, aufgrund berufsbedingt schlechter Ernährung und häufig ruhender Tätigkeit ein paar Pfunde in den Hüften abzulagern?«
»Nein, ist mir nicht aufgefallen.«
»Sie sehen mich also gar nicht an?«
»Jedenfalls nicht so.«
»Wie dann?«
»Sie werden intim, Lehnert.«
»Das kommt doch auf ihren Blick an. Wo gucken sie denn hin? Da, wo alle Männer hinsehen?«
»Ja, da habe ich auch schon hingesehen. Kurz.«
»Gibt ja auch nicht viel zu sehen. Im Gegensatz zu meinen Hüften.«
»Sie meinen diese Andeutung einer Wölbung? Was ist dann mit mir? Wie lange brauchen sie da, um alles gesehen zu haben?«
»Nicht allzu lange. Springt einem doch direkt ins Auge.«
»Okay, ab morgen mache ich Diät.«
»Ach, lassen Sie mal, so schlimm ist es ja gar nicht. Noch sehen sie eigentlich ganz knuffig aus.«
»Knuffig?«
»Genau. Knuffig.«
Paul fragte vorsichtshalber nicht nach, was genau das bedeutete. Er zog es vor, ihren Tonfall positiv zu interpretieren.
Auf dem Weg zu Margot Zenker hielt Cara auf einer Anhöhe mit einem weiten Blick über die Hügel des Bergischen an. Wegen Pauls Abneigung gegen Landstraßen und seines, wie sie es nannte, hyperaktiven Fahrstils, hatte sie das Steuer übernommen, wofür er ihr dankbar war, denn seine Vorliebe für schnelles Fahren hatte nichts mit Machogehabe oder Geschwindigkeitsrausch zu tun. Paul fuhr nicht gerne Auto und wollte es einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen und ans Ziel gelangen.
Sie gingen ein paar Meter einen Feldweg entlang. Ein wenig Abstand zwischen der Befragung Schusters und der Frau Zenkers konnte ja nicht schaden. Sonderlich erhellender durfte die auch nicht werden. Cara deutete hierhin und dorthin. Paul nickte, obwohl er nicht wusste, was an dieser Stelle so besonders war.
Sie schloss die Augen, sog die Luft tief in ihre Lungen und atmete hörbar befriedigt aus.
»Herrlich, diese Luft.«
Paul sah sie an, sagte aber nichts.
»Na, nichts zu meckern?«
»Nein, wieso? – – – Es ist nur, da mischt sich eine gehörige Portion Kuhdung in ihre frische Brise.«
»Ja, eine wunderbare Mischung.«
»Dachte ich mir.«
»Und Sie stört es? Versuchen Sie doch mal, auch das Positive an Kuhdung zu entdecken. Sie werden sehen, so gehen sie viel zufriedener durchs Leben.«
»Kuhdung hätte ich jetzt nicht mit Zufriedenheit in Verbindung gebracht. Dazu fällt mir ein Zitat von John Stuart Mill ein: ›Es ist besser, ein unzufriedener Mensch zu sein, als ein zufriedenes Schwein.‹«
»Wissen Sie, was meine Oma, eine bemerkenswerte und lebenskluge Frau, Ihnen darauf geantwortet hätte? – ›Wer den Kopf nicht hebt, kann die Sterne nicht sehen.‹«
»Auch wieder wahr.«
[…]
»Ach Sie sind’s.« Dennoch machte sie keine Anstalten, die Tür zu öffnen.
»Kann ich Ihre Ausweise sehen?«
»Sie kennen uns doch bereits.«
»Na und? Sie könnten ja gelogen haben. Oder vom CIA sein.«
Seufzend taten Cara und Paul, wie ihnen geheißen.
Dann endlich öffnete sich die Tür und mit einladender Geste wurden sie ins Haus gebeten.
»Sie halten mich vielleicht für misstrauisch, aber glauben Sie mir, das bin ich nicht, ganz und gar nicht. Man kann halt nicht vorsichtig genug sein, nicht wahr, gerade nach so einer schrecklichen Tat.«
Sie folgten ihr Richtung Wohnzimmer. Plötzlich wusste Paul, woran ihn Frau Zenkers Stimme erinnerte: an ein in Whiskey getränktes, kettenrauchendes Reibeisen.
»Das freut mich sehr, dass Sie gekommen sind und ich Ihnen bei der Klärung dieses Falles behilflich sein kann. Das ist mir eine große Ehre, auch wenn das natürlich selbstverständlich sein sollte. Was es ja heutzutage leider nicht mehr ist.«
Sie deutete auf zwei Sessel. »Nehmen Sie Platz. Ich komme gleich mit dem Kaffee. Dann werde ich Ihnen alles sagen, was ich weiß.«
»Die kann’s ja kaum erwarten«, flüsterte Cara. Paul verdrehte die Augen. Sie sahen sich um.
Sie saßen im Wohnzimmer eines mindestens hundertjährigen Gebäudes mit niedrigen Decken und kleinen Fenstern, die selten geöffnet wurden. Düstere, schwere Vorhänge harmonierten mit dicken braun- und schwarzfleckigen Teppichen. Paul öffnete instinktiv den obersten Hemdknopf und versuchte weiteren Augenschmerz zu vermeiden, indem er starr mal auf seinen Kaffee, mal in Zenkers Gesicht blickte. Er zog den Kaffee vor.
»Nett haben Sie’s hier«, sagte Cara. Paul wäre fast ein entsetztes »Was???« herausgerutscht angesichts der so wuchtigen wie muffigen Polstermöbel, der Häkeldeckchen auf wirklich jeder verfügbaren Ablage und der Hundertschaft verkitschter Hunde- und Katzenfiguren, die es sich auf den Deckchen gemütlich gemacht hatten. Zu schlechterletzt röhrte über dem durchgesessenen Sofa ein kapitaler Hirsch auf von himmlischem Strahlenkranz illuminierter Waldlichtung.
Paul litt. Cara lächelte. Zenker strahlte. Sie würdigte Paul keines Blickes und führte angeregten Small Talk mit Cara. Um den Aufenthalt nicht unnötig in die Länge zu ziehen, unterbrach er das Geplänkel.
»Soweit wir wissen, sind Sie nicht in der Bürgerinitiative gegen den Freizeitpark. Sie haben Grewe sogar ein Stück Ihres Landes verkauft. Wie gut kannten Sie ihn?«
»Kennen? Na, wen kennt man schon wirklich, nicht wahr? Wir hatten nur wenig miteinander zu tun, außer beim Verkauf meines Grundstücks, aber das ging recht zügig vonstatten. Also, ich weiß gar nicht, was die Leute gegen ihn hatten, das war doch ein sehr, sehr netter, feiner junger Mann, immer höflich und aufmerksam. Wir kamen rein zufällig einmal ins Gespräch und da hat er mir von seiner Familie erzählt und seiner kranken Mutter, die er neben seinem aufreibenden Beruf gepflegt hat. Sie müssen wissen, die hat nämlich … «
Nein, ein ganz entschiedenes Nein. Das mussten Sie nicht wissen. Das behielt Paul aber vorsichtshalber für sich. Stattdessen fragte er: »Ihre Sympathie für Herrn Grewe wurde aber wie es scheint nicht von vielen im Ort geteilt.«
Frau Zenker sah ihn kurz irritiert an, ließ sich aber von Schrots unhöflicher Unterbrechung nicht aus der Bahn werfen.
»Nein, die wissen ja auch nichts von dem schweren Krebsleiden seiner Mutter. Darmkrebs. Im Endstadium. Und dann machen die Leute hier dem Florian auch noch das Leben schwer. Boykottieren seine Baumaßnahmen, demolieren Baumaschinen. Einmal haben sie die Einfahrt zur Baustelle mit Treckern und Pferdetransportern zugestellt. So etwas macht man doch nicht. Sagen Sie selbst.«
»Und trotzdem wurde dieser feine Mensch ermordet«, bemerkte Paul. Ob sie seinen Sarkasmus bemerkt hatte, ließ sie sich nicht anmerken.
»Ja, eine Schande, wirklich. Der arme Mann. Und die Mutter erst!», sagte Frau Zenker und legte die rechte Hand auf die Wange.
Vor Pauls geistigem Auge tropfte klebriges Mitgefühl auf den Teppich zu Zenkers Füßen. So allmählich wurde ihm körperlich unwohl, während Cara doch tatsächlich eine Hand auf Zenkers Unterarm legte.
»Ja, das stimmt. Es gibt wirklich schwere Schicksale.«
Paul sah sie entsetzt an, aber bevor ihm eine passende, aber unhöfliche Bemerkung entweichen konnte, fügte sie hinzu: »Können Sie sich vorstellen, wer so etwas getan haben könnte?«
»Ha, und ob ich das kann. Das ist ja nicht schwer und Sie haben da sicher auch schon ihren Verdacht, nicht wahr?«
»Nun ja, wir stehen ja gerade erst am Anfang …«
»Möchten Sie noch eine Tasse?« Zu Caras Überraschung antwortete Paul sofort mit einem klaren Ja.
»Ein sehr guter Kaffee, Frau Zenker“, fügte er hinzu. Nicht, um bei ihr zu punkten. Er war aufrichtig, auch wenn es ihm schwerfiel.
»Das freut mich«, strahlte sie zurück und erging sich in einer ausführlichen Beschreibung der Bohnen, ihres käuflichen Erwerbs und ihrer ureigenen, Zenkerschen Aufbrühmethode.
»Aber deswegen sind Sie ja gar nicht hier, nicht wahr? Also, ich bin sicher, Sie vermuten den Täter in den Reihen dieser dubiosen Bürgerinitiative. Und Kandidaten gibt es da sicher. Die Rapps und die Weißkirchs, die haben ja am meisten zu verlieren. Und die Roemers natürlich, aber die Gerda und der Friedrich? Nein, nein, die machen sowieso nicht mehr lang, das Geschäft mein ich, die gehen sowieso bald in Rente und die älteste Tochter, die Annika, die lebt in Kiel mit ihrem Mann und den vier Kindern, die gehen da auf die Schule und der Mann auch, der ist nämlich Lehrer, für Deutsch und Chemie glaube ich, oder war’s Biologie? Na, ist ja auch egal. Jedenfalls die Jüngste, die Vera, die ist ja gerade mal 20, also ob die so ein Geschäft führen kann, egal, wie sehr sie die Arbeit mit Tieren liebt, also das ist ja mal mehr als fraglich, oder? Aber wenn Sie mich fragen, da gibt es noch andere, die einiges zu verbergen haben.«
Sie machte eine bedeutungsschwangere Pause und steigerte die Spannung, indem sie erst noch einen Schluck Kaffee nahm. Paul knirschte mit den Zähnen. Cara beugte sich mit großen Augen auffordernd noch vorne.
»Sie müssen wissen«, jetzt senkte die Zenker die Stimme und beugte sich zu Cara hinüber, »der Grewe, der hatte sich doch in die Weißkirch verguckt. Verstehen kann man’s ja. Ich mein, hässlich ist sie ja nicht mit ihren 51 Jahren. Sie hat so Dinge, die Männer mögen», sie formte mit beiden Händen voluminöse Kugeln – »Sie wissen schon …!
Na, und da hat er sie immer zum Essen einladen wollen, aber sie hat sich geziert, die Schnepfe. In Wirklichkeit liebt sie doch die ganze Aufmerksamkeit. Und dann«, jetzt sprach sie wieder zu beiden, »auf dem Schützenfest, da hat er sie ständig zum Tanzen aufgefordert. Irgendwann hat sie dann nachgegeben und das …«, wieder hielt sie den Atem an und wurde noch eine Nuance leiser, »das hat dem Horvath überhaupt nicht gefallen«, um dann allmählich wieder lauter und empörter zu werden. «Es gab sogar eine Rangelei zwischen den beiden und der Florian hat dem Horvath einen Kinnhaken verpasst. Ich gebe zu, das war jetzt nicht so nett von ihm, aber da hatte er ja schon ein bisschen zu viel getrunken und wenn da so einer daherkommt und dich beleidigt, nur weil du mit einer Frau tanzen willst, also, da kann man doch verstehen, dass man sich da mal nicht so richtig im Griff hat. Denn eigentlich …«
»War der Grewe ein feiner Mensch«, vollendete Paul.
»Genau. Aber der Horvath …, das hatte natürlich auch einen Grund, warum der so sauer war.«
Sie lehnte sich zurück und bekräftigte ihre Aussage mit heftigem Klopfen auf ihre Armlehne.
»Ach nee«, sagte Paul.
»Ach ja?«, sagte Cara.
»Die haben nämlich ein Techtelmechtel, die Zwei! Obwohl er ja 17 Jahre jünger ist. Stellen Sie sich das mal vor! Ihr Mann, der Thomas, der ist ja oft auf Geschäftsreisen und dann ist der Horvath ständig bei ihr. Josip Horvath. Kroate. Arbeitet im Kletterwald.«
»Und woher … «
»Na, ich wohn’ doch hier direkt an der Abzweigung. Was meinen Sie, wie oft der Horvath abends auf diesem Schleichweg Richtung Holpe fährt und zwei, drei Stunden später, manchmal auch erst mitten in der Nacht wieder zurückkommt! Da geht es nämlich eigentlich nur zum Reitstall und jetzt natürlich zur Baustelle. Oder glauben Sie etwa, der kriecht wirklich um sechs oder um acht Uhr abends nach Holpe? Was will der da? Nee, nee, der ist regelmäßig bei der Weißkirch. Seit fast zwei Jahren geht das schon so. Mindestens!»
Sie trank einen Schluck. »Außerdem …«, sie nippte noch einmal an ihrem Kaffee, »… außerdem sieht man das doch, wie der dauernd um sie herumscharwenzelt. Und wie ihr das gefällt. Haha, diese Weißkirch. Ich mein, die versuchen ja, es irgendwie zu verbergen, aber …, wenn man genau hinguckt!«
»Und Sie gucken genau hin«, sagte Schrot ohne Ironie.
»Ja, natürlich. Ich interessiere mich eben für meine Mitmenschen. Die meisten denken doch heutzutage immer nur an sich selbst. Da kümmert sich keiner um den anderen.«
»Wissen Sie, rein zufällig natürlich, ob Herr Horvath auch am vierten September in Richtung Holpe fuhr?«
»Ach so, verstehe, wegen seines Alibis.« Sie zierte sich. »Also, wissen Sie, ich mische mich ja nicht in die Angelegenheiten anderer Leute ein. Vor allem, wenn es um so etwas geht. Nachher irrt man sich und hat nur ein ähnliches Auto gesehen und dann hat man vielleicht nur flüchtig hingeguckt oder es war dunkel. Man will ja auch nichts Falsches sagen, nicht wahr?«
»Und? Könnte es denn sein, dass Sie ihn an dem Abend gesehen haben?«, fragte Cara.
Zenker wiegte den Kopf. »Ja, doch. Ich denke schon. Aber beschwören könnte ich das nicht.«
»Aber was die anderen Tage betrifft, an denen Sie ihn gesehen haben, da sind Sie sich sicher.«
»Aber ja! So oft, wie ich ihn gesehen habe. Und am vierten, also, ich sage nur: Der Thomas war auf Geschäftsreise.«
Paul hielt es nicht mehr aus. Er erhob sich mühsam aus dem tiefstgelegten Sessel.
»Ja, also dann, Frau Zenker. Vielen Dank für den Kaffee und … «
»Ich helfe doch gerne, wenn ich kann.«
»Ja, das war wirklich sehr … aufschlussreich.«
»Wenn Sie noch weitere Fragen haben, kommen Sie einfach wieder vorbei. Ich wohne ja jetzt seit fast 50 Jahren hier. Da kriegt man schon so einiges mit.«
»Das kann ich mir lebhaft vorstellen«, sagte Paul.
Als er im Auto saß, musste er erst einmal tief durchatmen. Er fragte sich, ob die alte Klatschbase nicht doch die eine oder andere nützliche Beobachtung gemacht hatte. Ihr Kaffee war jedenfalls der beste, den er seit Langem getrunken hatte.
»Die steht jetzt bestimmt am Fenster und beobachtet uns«, sagte Cara.
»Garantiert!« Er lachte sie an.
»Woher der ungewohnte Ausbruch an Heiterkeit?«, fragte sie.
Statt einer Antwort startete Paul den Motor und fuhr in Richtung Niederwinkel, hielt aber sofort wieder an der Bushaltestelle. Dann wendete er und fuhr in Richtung Rolshagen, bog in die andere Haltestelle ein, wendete erneut und hielt wieder am Wartehäuschen an. Er stieg aus und rauchte eine Zigarette. Er stellte sich vor, wie gerade die Fantasie mit Frau Zenker durchging. Er stieg wieder ein, drehte noch einmal eine volle Runde und fuhr sichtlich erheitert zum Dorfkrug zurück.





