Armes Amerika. Was ist aus dem Leuchtturm der Hoffnung, aus dem Hort der Freiheit geworden? Der Kampf um die neue Richterin am Supreme Court belegt zum einen, dass das amerikanische politische System antiquiert und nicht mehr in der Lage ist auf gesellschaftliche Veränderungen und die Anforderungen der modernen Welt zu reagieren, und zum anderen, dass Amerika ideologisch zu versteinern droht. Es wird immer offensichtlicher: die politischen Institutionen Amerikas sind in uralten historisch überholten Klischees erstarrt und nicht mehr in der Lage eine pluralistische und zunehmend diverse Gesellschaft abzubilden, geschweige denn für sozialen Frieden zu sorgen.
Das gilt erstens und vor allem für das Wahl- und Parteiensystem. Das Mehrheitswahlrecht und das daraus resultierende Zwei-Parteien-System erstickt jedwede dritte oder gar vierte Kraft, die die unterschiedlichen Lebenswelten und –entwürfe wiederspiegeln könnte, schon im Keim. Die meisten Amerikaner können sich nicht einmal vorstellen, dass es neben Demokraten und Republikanern eine weitere Partei geben könnte. Wobei man nicht vergessen darf, dass es sich hier nicht um feste Strukturen wie in allen anderen Demokratien der Welt handelt, sondern um reine Wahlvereine, die nicht über Ortsvereine und alltägliche Arbeit an der Basis verankert sind, und deren einziges Ziel die Erlangung von Bürgermeister- und Gouverneursposten und eben des Präsidentenamtes ist. Deshalb hat sich auch an der Basis über fast 250 Jahre hin keine neue Kraft bilden können.
Wozu natürlich auch beigetragen hat, dass es keine inhaltliche Parteiarbeit gibt. Es gibt ja nicht einmal ein Parteiprogramm! Es gibt allein Wahlversprechen. Und so degenerierten die beiden Wahlvereine zu Patronageparteien, die, an die Schalthebel der Macht gelangt, als erste Amtshandlung diejenigen mit Posten und Einfluss belohnen, die ihnen zu dieser Macht verholfen haben. Bleibt in Deutschland beispielsweise die Ministerialbürokratie bis auf die obersten Leitungspositionen dieselbe, findet in den USA ein Austausch auf allen Ebenen statt, aber nicht in erster Linie, weil man den Menschen nicht traut unideologisch einfach ihre Arbeit zu machen, statt die neue Regierung zu sabotieren, sondern weil es um Pöstchen und Pfründe für die getreuen Helfer geht. Um Leute, so der nicht ganz falsche Eindruck, die nicht Lösungen im Interesse der Bevölkerung suchen, sondern von Lobbyisten bestellte und bezahlte Gesetze umsetzen. Ist es da verwunderlich, dass viele Amerikaner ein so negatives Bild vom politischen „Establishment“ haben?
Zudem ist der politische Kampf völlig auf zwei Personen fokussiert, und Trump hat die aus dieser Konstellation resultierenden Schwächen offengelegt, wie kaum ein Präsident zuvor. Zwei Protagonisten steigen in den Ring, wobei früher wenigsten noch sportliche Fairnessregeln galten. Jetzt erinnert das ganze eher an Ultimate Fighting. Es geht allein um Konfrontation, um „die“ oder „wir“. Kompromisse sind nicht mehr möglich. Traditionell gingen viele Menschen gar nicht erst wählen, weil sich die beiden Parteien so ähnlich waren, weil sie in den grundlegenden Fragen von Nuancen abgesehen übereinstimmten. Heute stehen sich dichotome Weltanschauungen gegenüber – und einer der Protagonisten ist bereit diese Spaltung bis zum Exzess voranzutreiben. Nicht umsonst ziehen viele Kommentatoren Parallelen zu 1860.
Politische Inhalte verschwinden hinter diesem Zweikampf. Sie sind bedeutsam, aber nachrangig. Es geht um Grundsätzliches, um geradezu Archaisches. Es geht um den ewigen, gerade in den USA immer wieder politisch wie medial beschworenen Kampf um das Gute gegen das Böse, um Dämonisierung, ob in Hollywood oder im Parlament. Die politische Kultur ist festgefahren in apokalyptischen Visionen. Selbst Menschen, die Trump für einen ungehobelten, frauenfeindlichen Rassisten halten, lassen ihm jede Entgleisung und jede dreiste Lüge durchgehen, um das vermeintliche Chaos und das Ende der glorreichen USA unter der Ägide Joe Bidens zu verhindern. Und die Demokraten reduzieren sich selbst auf eine reine Anti-Trump Partei – um Chaos und Untergang und das Ende der glorreichen USA zu verhindern. Beschwörungen statt Programm. Es ist kein Zufall, dass sich beide Lager der gleichen Licht-Finsternis-Symbolik bedienen!
Zweitens: die USA sind unfähig zur Reform. Der stehen zwei Formen von Personenkult im Weg. Die Fokussierung auf den Präsidenten, auf die zumindest gewünschte Lichtgestalt, führt dazu, dass solche grundlegenden Reformen von ihm ausgehen müssten. Ohne einen charismatischen Führer, der die Massen mitreißt, ist da nichts zu machen. Noch schwerer wiegt die Vergöttlichung der Gründerväter. Das von ihnen geschaffene System gilt allen als sakrosankt. Zwar gab es kein Smartphone und kein Facebook und kein Fox News, keine Genderdebatte, keine Hedgefonds, keinen Klimawandel. Aber an ihrer umfassenden Weisheit zu zweifeln ist teuflischste Blasphemie. Auf der einen Seite war Amerika oft Vorreiter – man glaubt es heute kaum, aber das galt sogar mal für den Umweltschutz, unter dem oft belächelten Jimmy Carter. Es galt als das Land der Innovation. Heute gilt das selbst für Wirtschaft und Technologie nur noch mit Einschränkungen, sieht man mal von I-Phones und immer abenteuerlicheren Finanzkonstrukten ab. Auf der anderen Seite ist Amerika ein äußerst traditionsbewusst-konservatives Land. Bisher jedenfalls würde es kein Mensch, der politisch Karriere machen möchte, wagen das Wahlmännergremium in Frage zu stellen, oder ernsthaft das Wahlrecht ändern zu wollen, obwohl es eklatante Schwächen hat und sozial Schwache und ethnische Minderheiten benachteiligt. Wahlmanipulation ist nicht durch vermehrte Briefwahl zu befürchten (obwohl man auch das in den USA nicht kategorisch ausschließen sollte), sondern durch die traditionellen Formen über Wählerverzeichnisse oder das Recht von Gouverneuren Gefängnisinsassen – überwiegend Schwarze und Latinos – das Wahlrecht zu entziehen. Nein, lieber behält man ein System bei, dessen Strukturen nur mit den historischen Notwendigkeiten der Gründerzeit zu erklären sind, wie das überproportionale und immer wieder das Wahlergebnis verfälschende Gewicht bevölkerungsarmer Staaten, denen man etwas bieten musste, damit sie der Union beitraten. Dass deshalb nicht die Person mit den meisten Stimmen Präsident wird, ist vielleicht nicht schön, aber wenn die Gründungsväter das so wollten, …
Durch den Tod von Ruth Bader Ginsburg rückt nun – wieder einmal – auch der enorme Einfluss von Legislative und Exekutive auf die Justiz in den Blickpunkt. Trump ist es gelungen das ohnehin prekäre System der checks and balances auszuhebeln. Angefeuert durch die Ideologie des Starken Mannes und des Kampfes um die wahren amerikanischen Werte akzeptiert das konservative bis reaktionäre Amerika die Aushöhlung der Gewaltenteilung, u.a. durch die Einmischung in laufende Verfahren und die öffentliche Denunzierung von Richtern durch den Präsidenten höchst selbst. Dass aber der Präsident das Vorschlagsrecht hat für das höchste Richteramt im Land, und dass diese Richter auf Lebenszeit gewählt werden, das wiederum geht auf die heiligen Gründungsväter zurück.
Dummerweise hat Trump allein in seiner ersten Amtszeit das traurige Glück gleich drei dieser Posten neu zu besetzen und damit auf Jahrzehnte hinaus eine erzkonservative Mehrheit im Obersten Gerichtshof zu sichern, dem richtungsweisenden und aller formaljuristischen Rhetorik zum Trotz hochpolitischen Gremium. In dem nun, mit einer komfortablen Mehrheit, das Rollback gestartet werden soll.
Wen hat sich Trump da ausgesucht, begleitet von Jubelschreien seiner Anhänger? Amy Coney Barrett, eine Frau, die einer ultra-konservativen religiösen Sekte angehört, die den Gehorsam gegenüber geistlichen Führern und die Unterordnung der Frau unter den Mann predigt. Eine Frau, die Abtreibung selbst nach einer Vergewaltigung ablehnt, und die Homosexualität als schwere Sünde betrachtet, die die Waffengesetze großzügig auslegt und Obama-Care abschaffen will. Eine Frau, die der Federalist Society angehört und die Verfassung stets im Sinne der Gründungsväter, also im Geiste der Welt von 1787, auslegen will. Eine Frau wie geschaffen für das heutige Amerika.
Und das zukünftige? Nach 1990, nach dem Zerfall der Sowjetunion, schwadronierten viele Amerikaner vom Goldenen Amerikanischen Zeitalter, das nun angebrochen war und der Welt Frieden, Wohlstand und Glück bescheren würde. Nun, es scheint, als sollte es eines der historisch kürzesten Zeitalter werden. China ist eine neue Supermacht, Europa emanzipiert sich allmählich, Amerikas Einfluss schwindet. Es ist damit zu rechnen, dass sich dieses Land in den nächsten Jahren vor allem mit sich selbst beschäftigen wird, mit inneren Unruhen und institutionellen Krisen, die noch am Wahlabend im November beginnen werden. Vor vier Jahren war ich noch überzeugt, dass ein Trump allein die amerikanische Demokratie, so fragwürdig ihre Grundlagen auch sein mochten, nicht ruinieren könnte. Ich fürchte, da war ich – welche Ironie – zu amerikanisch. Zu optimistisch.