Die Zeit-Journalistin Samiha Shafy fragt sich, ob es den Westen nach dem Afghanistan Debakel überhaupt noch gibt1. Ich denke ja, aber er muss sich erneuern – oder sein Abstieg setzt sich fort.
Was Amerika betrifft: Die Träume von Oberpatrioten wie George Bush und Charles Krauthammer von einer unipolaren Welt mit den USA als natürlicher, gottgewollter Führungsmacht, von einem „goldenen amerikanischen Zeitalter“ waren ohnehin nichts weiter als selbstbesoffene, sternenbannerverblendete Phantasmagorien. Aber auch für Europa gilt: Die wunderschönen Ideale des Westens – Demokratie, Rechtsstaat, Menschenrechte, rationale Politik – haben an Glanz verloren durch verlogene, inkonsequente Politik. Bis hin zur deutschen Regierung, die selbstgeschaffene bürokratische Hindernisse vorschiebt, wo es in Wirklichkeit um Wahlergebnisse geht. Die Angst vor Flüchtlingen macht Menschenrechte und moralische Verpflichtungen gegenüber denjenigen, die für deutsche Sicherheit ihre eigene aufs Spiel gesetzt haben, zweitrangig. So verspielt man, nicht zum ersten Mal, Glaubwürdigkeit.
Wer hätte etwas dagegen, nicht nur Waren, sondern ein friedliches, gerechtes, dem Menschen wohlgesonnenes gesellschaftliches, politisches und ökonomisches System zu exportieren? Man muss es aber auch vormachen, statt es als Rechtfertigung für eigene Machtinteressen zu nutzen. Was wollte Deutschland in Afghanistan? Menschen von Barbarei und Diktatur befreien oder uns am Hindukusch verteidigen?
Alle in Afghanistan gemachten Fehler sind hinreichend beschrieben worden. Nicht erst jetzt. Aber auch andere müssen ihre Dogmen überprüfen. „Raus aus Afghanistan. Sofort“ hat sich als buchstäblich tödlich erwiesen. Europa stolperte, ohne im Geringsten über eigene Konzepte nachzudenken, mal wieder Amerika auf seiner Flucht hinterher. Chaotisch, schlecht organisiert und viel zu schnell, viel zu früh. Der Westen hat sich nach dem Motto verhalten: Okay, war alles falsch, das Kind ist in den Brunnen gefallen. Aber jetzt machen wir den Deckel drauf. Und das Kind muss halt ersaufen.
Jahrelang hat das westliche Modell Siege errungen, in mehr und mehr Staaten war die Demokratie auf dem Vormarsch. Mit Mängeln oft, mit Jugendsünden. Aller Anfang ist eben schwer, aber wenn er aus den Staaten selbst kommt, wenn sich demokratische Strukturen intern entwickeln, macht das wenigstens Hoffnung. Kommen Demokratie und Rechtsstaat aber mit Kampffliegern, Drohnen und von außen eingesetzten willfährigen Führern, wird es ungleich schwerer, dann muss konsequentes state-building und der Aufbau lokaler, selbstbestimmter Strukturen für ein langfristig tragfähiges Fundament sorgen.
Genau daran sind alle in Afghanistan mal wieder gescheitert. Dazu wäre allerdings auch eine eigenständige europäische Strategie notwendig gewesen, statt wie üblich als amerikanisches Anhängsel zu fungieren. Solange die USA die Führung haben, kann das nichts werden, denn dieses Land hat eindeutige Prioritäten. Nach wie vor, ob unter Bush, Obama, Trump oder Biden, gilt Henry Kissingers Diktum: „Amerika hat keine dauerhaften Freunde oder Feinde, nur Interessen.“
Und unter dieser Ägide, gepaart mit einer traditionellen Abneigung, sich überhaupt mit anderen Kulturen zu befassen, die per definitionem auf einem niedrigeren Niveau vegetieren – Trumps shithouse states sind nur eine besonders drastische Formulierung für allgemeines nationalistisches und kulturimperiales Gedankengut – hatten die amerikanischen Regierungen keine Probleme mit Warlords und Drogenbaronen zu kooperieren, statt sich um Basisdemokratie und wirtschaftliche Strukturen zu kümmern. Im Zerstören sind sie gut. Ans Aufbauen denken sie nicht mal. Geradezu erschütternd wurde dies deutlich, als Donald Rumsfeld nach dem Einmarsch in Afghanistan von einem Reporter gefragt wurde, wie es denn jetzt nach dem militärischen Sieg mit dem Land weitergehen solle. Rumsfeld blickte in die Kamera, schwieg verwirrt und stammelte Unzusammenhängendes. Jeder konnte sehen: Daran hatte er nicht die Ahnung eines Gedanken verschwendet.
Shock and awe – das war amerikanische Strategie nicht nur im Irak. Und das haben sie bekommen. Und das ist, wofür der Westen, sprich die USA und das leider immer noch unselbstständige Europa stehen. Für den Willen, sich überall einzumischen gepaart mit der Unfähigkeit gebeutelten Ländern ökonomisch und politisch auf die Beine zu helfen.
Das lässt Schlimmes ahnen. Die Demokratie ist wieder auf dem Rückzug und hat die Legitimität zur Wehrhaftigkeit im Interesse der Menschen auch anderswo in der Welt weitgehend verloren. China weitet seinen Einfluss aus und hat bereits gute Kontakte nach Kabul. Totalitären Regierungen wie den Taliban stehen sie ideologisch ohnehin näher als uns. Wie wird der angeschlagene Westen reagieren, wenn sich weitere muslimische Länder radikalisieren, wenn Putin seinen Druck auf den Donbass erhöht, wenn China die Konflikte mit Japan (Senkaku-Inseln) und Taiwan verschärft? Wohlgesetzte diplomatische Worte? Noch eine deutsche, Schrecken verbreitende Fregatte ins Südchinesische Meer? Ein neuer unkalkulierbarer militärischer Konflikt mit Russland oder China, angefacht von einem amerikanischen Präsidenten, der sich gerade in den Augen der Welt und vor allem seiner Landsleute blamiert hat und ihnen jetzt beweisen muss, was für ein tougher Haudegen der alte Knochen ist?
Es ist paradox: Eine solche Reaktion wäre zu fürchten, ohne Frage. Gar nicht zu reagieren hieße allerdings, jeden universellen Anspruch auf Gerechtigkeit und Menschenrechte aufzugeben und sich darauf zurückzuziehen, dass wenigstens Amerika und Europa einigermaßen demokratisch bleiben. Das wäre eine neue Form des Isolationismus. Handel weltweit. Frieden, Demokratie und Menschenrechte für uns. Und das zu erhalten, haben die beiden ohnehin schon alle Hände voll zu tun. Wollen wir hoffen, dass noch Zeit bleibt für die Entwicklung einer neuen, und das ist unabdingbar, europäischen Außenpolitik. Für einen neuen Westen.
1 Shafy, Samiha. „Aus der Traum.“ Die Zeit, 19.8.21