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Wolfgang Mebs. Blick ins Kaleidoskop. Chemnitz, net-Verlag 2020. (ISBN: 978-3-95720-285-7) € 15,95
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Das Buch ist auch als E-book erhältlich.
KARL RICHTER hasst es aufzustehen. Er weiß nicht wozu. Wie jeden Morgen liegt er wach da, fühlt sich aber eher gerädert als erholt. Die Sonne scheint grell, und schickt einige aggressive Strahlen zwischen den nicht ganz zugezogenen Vorhängen hindurch in sein Zimmer, direkt bis an den Rand seines Bettes. Karl hasst Morgende, diese ewig wiederkehrende Verpflichtung, etwas mit dem Tag anzufangen, sich seiner Existenz würdig zu erweisen, ein Tagwerk zu verrichten und zu beweisen, dass er nicht nur dahinvegetiert. Carpe diem! Der Wahlspruch der Tatkräftigen und Erfolgreichen, der in ihm augenblicklich Magengeschwüre hervorruft und für den er nichts anderes übrig hat als ätzenden Zynismus, als höhnische Verachtung für den unbeirrbaren und nicht zu kurierenden Glauben, dass die menschliche Existenz irgendeinen Sinn mache oder man ihr durch irgendeine Tätigkeit Sinn verleihen könne. Carpe diem? Und dann in irgendeiner Fabrik stumpfsinnig einem Fließband dienen? Kleinen Prinzen und Prinzessinnen Mathe, Mitgefühl oder Kultur zu vermitteln? Wie Sisyphos Kriminalität in Gossen und Palästen bekämpfen? Oder wie er Bilder malen, die auf rasant sinkendes Interesse stoßen und ohnehin niemals mehr als eine ausgesucht begrenzte Fangemeinde hatten? Die das ganze Scheißige dieser Welt großflächig anprangern, ohne auf nennenswerte Resonanz zu stoßen und schon gar nicht ein einziges Jota bewirken?
Nein, nach all den Jahren ist ihm nichts geblieben als, wie er es selber gerne nennt, goethescher Lebensekel. Einst glaubte er, ein Lebenswerk schaffen zu können, etwas, das bliebe und das es wert sei zu bleiben. Aber im Gegensatz zu Goethe ist ihm allein der Ekel geblieben. Seine Erfolglosigkeit hat ihm deutlich gemacht, dass er nicht dazu in der Lage ist, und seine Lebenserfahrung hat ihn gelehrt, dass das auch gar nicht möglich ist, und dass alle, die auf Goethe oder andere verweisen, um ihn zu widerlegen, sich weigern der Wahrheit ins Auge zu blicken. Was war denn von Goethe geblieben? Wie viele Menschen lesen ihn? Wie viele verstehen ihn? Wie viele eifern ihm nach? Welchen Einfluss hat er denn gehabt auf das Weltgeschehen? Wäre heute irgendetwas anders, hätte er nicht gelebt? Hätte er den Prometheus, den Werther, den Faust nicht geschrieben?
[…]
Dass ihm gerade der Geburtstag seines Sohnes einfällt, macht den Tag auch nicht leichter. […] Nie hat er ein Vater werden wollen wie sein eigener, und genau genommen hat er sich einen Sohn gewünscht, nur um zu beweisen, dass es anders sein kann, verständnisvoller, liebevoller. Als Marga schwanger war, sah er bereits die strahlenden Augen seines Sohnes, wenn er mit ihm spielte und tobte und ihm die Welt erklärte. Aber als es dann soweit war, stellte er fest, dass er mit einem ständig schreienden und scheißenden Bündel nichts anfangen konnte, im Gegenteil. Er vertröstete sich auf später, wenn Jonas würde laufen und reden und lesen und verstehen können, dann würde alles anders werden. Aber als Jonas dann laufen und reden und lesen und verstehen konnte, stellte Karl fest, dass ihm seine Staffelei wichtiger war als gegen eine Plastikball zu treten, dass er sich auf Vernissagen wohler fühlte als bei dem Versuch Jonas ständiges Geplapper zu ertragen und seine völlig abwegigen Fragen zu beantworten, dass ihm seine künstlerische Krise noch mehr zu schaffen machte als der komplett sinnlose Versuch einem renitenten Pubertierenden, der aus lauter Trotz zum Popper wurde und die künstlerischen und politischen Ansichten seines Vaters lächerlich, naiv und überholt fand, Paroli zu bieten.
Und jetzt kann er sich nicht mal ein Bild von Jonas machen, weil er ihn seit viereinhalb Jahren nicht mehr gesehen hat.
[…]
Nein, es gibt keinen Grund aufzustehen und diesem universellen Elend ins Auge zu blicken. Außer dem, einfach weiterzumachen, wenn schon nicht erfolgreich, dann wenigstens hartnäckig, mit dem festen Glauben an die eigene, tiefere Erkenntnis, in der Hoffnung, wenigstens das eine oder andere offene Ohr zu finden, dem einen oder anderen wachen Geist Nahrung zu sein, kein gefeierter Philosoph, sondern fleischgewordenes Menetekel. Karl betrachtet sich als apokalyptischen Fußgänger. Seine Reden sind keine Posaunen, die Mauern der Ignoranz bleiben so fest gefügt wie immer, der Mörtel der Dummheit und Arroganz hält die potemkinschen Ziegel zusammen. Aber wenigsten will er nicht stumm bleiben, sondern der Welt seine Wut entgegen schreien, und wenn es auch meist taube Ohren sind, so ist er lieber ein lächerlicher Rufer in geistiger Wüstenei als sich mit einem Strick davonzustehlen, lieber Don Quijote als unbeachteter Märtyrer.
[…]
Smalltalk ist mit Karl unmöglich, weil er jedwede Bemerkung, so banal und alltäglich sie sein mag, zu einem weltbewegenden Beispiel für was auch immer macht. Eine harmlose Bemerkung über die herrlich wärmende Frühlingssonne regt ihn an zu Reflexionen über Klimaerwärmung und Hautkrebs, ein dahingesagtes Kompliment über den Kaffee löst ernsthafte Ermahnungen aus, sich Gedanken zu machen über ausbeuterische Strukturen des Welthandels und auch fair trade einer kritischen Analyse zu unterziehen. Und die Erwähnung des Papstbesuches führt ohne weitere Umschweife zu einem für die meisten wenig erbaulichen Vortrag über Kierkegaards transzendente Existenz und die Kreuzigung des Verstandes.
[…]
Seine zwei Zimmer möbliert zu nennen wäre ein für Karl unüblicher Euphemismus. Ein Herd bei dem nur noch zwei Platten funktionieren, ein brummender Kühlschrank, dessen Abwärmegitter alle paar Minuten heftig rappelt, ein Bett mit durchhängender Matratze, ein klappriger Tisch mit ebensolchen Stühlen – zwei an der Zahl – ein Barhocker mit aufgeplatztem Sitzpolster und ein riesiger Ohrensessel, den er in einer kurzen besseren Zeit bei einem Antiquitätenhändler erstanden hatte. Und Regale an allen Wänden, bis unter die Decke, vollgestopft mit Büchern. Weitere Bücher stapeln sich davor, neben dem Bett, um den Sessel herum, auf den Fensterbrettern, die chaotischste Bücherei des Universums, in der er aber zur Verwunderung seiner mittlerweile nur noch seltenen Besucher jederzeit genau das Buch findet, das er sucht.
Karl liest alles, einfach alles, was ihm in die Hände fällt. Und so ist auch sein Weltbild. Allumfassend. Es ist das Ergebnis seiner zahllosen Studien, auch wenn er eigentlich in Philosophie immatrikuliert war und dort auch sein Examen versuchte. Dummerweise war er wie bei den meisten auf Ablehnung und Unverständnis gestoßen, da das, was er als einen innovativen, ja genialen universellen Ansatz betrachtete, von seinen Dozenten und Professoren als unausgegorenes Sammelsurium mehr oder weniger skurriler Ideen, halbverdauter Erkenntnisfetzen und gedanklicher Salti mortali bezeichnet – und bewertet wurde.
„Das Problem ist doch“, sagte Karl, „dass alles auf einem ziemlich oberflächlichen Niveau bleibt. Die meisten Menschen und eigentlich auch die meisten Philosophen streben ein klares, ein eindeutiges Weltbild an, ein System, das die Welt kategorisiert. Sie wollen verzweifelt an einer Illusion festhalten. All diese Versuche die Welt in Schubladen zu pressen, sie eindeutig und überschaubar zu machen, um sich letztlich in Sicherheit wiegen zu können, müssen scheitern. Ich sage dir auch warum. Weil es keine Theorie gibt, die die Vielgestaltigkeit der Welt auf einen Nenner bringen kann, die alle Phänomene innerhalb eines statischen Gedankengebäudes hinreichend erklären kann.“
„Naja“, wendete Frank ein. „Man kann aber auch schlecht an alles gleichzeitig glauben.“
„Wieso nicht? Im Gegenteil! Ich behaupte, dass man als ernsthafter Philosoph nur Eklektizist sein kann. Ich lehne jeden totalitären Anspruch ab, erst recht den von Welterklärungstheorien. Ein rationaler Mensch muss grundsätzlich alles in Frage stellen und alles für möglich halten. Deshalb bin ich katholischer Zen-Buddhist, sunnitischer Indianer, ein konservativer Anarcho, ein radikaler Spießer, existenzialistischer Hegelianer, metaphysischer Empiriker, hoffnungstrunkener Apokalyptiker und ein völlig durchschnittliches Genie.“
X X X X X
JULIA KRAUSE wacht wie immer viel zu früh auf nach so einer Nacht. Sie hatte endlos getanzt, zu viele Caipirinhas, zu wenig Wasser. Wie üblich war sie zunächst wie ein Stein ins Bett und in einen komatösen Schlaf gefallen, der aber nur kurz währte. Sie wälzt sich hin und her, um kurzfristig durch wirre Traumbilder zu irren. Selbst wenn sie sich bemüht, fällt es ihr schwer sich zu erinnern, zu verworren ist das, was durch ihr Gehirn spukt. Sie ist überzeugt, dass niemand so assoziativ träumt wie sie, so zusammenhanglos, ein Sammelsurium szenischer Darstellungen, von Stillleben, eine endlose Kette eingefrorener Momente, deren Verbindung allein ihr Unterbewusstsein zu entschlüsseln vermag. Gefragt, was sie geträumt hat, kann sie nie eine Geschichte bzw. Erinnerungsfetzen daran erwähnen, wie es ihre Freunde können. Ihr bleiben nur diese nebulösen Polaroid-Fotos.
Eines hat sie plötzlich wieder vor Augen, als sie im Badezimmer steht und darauf wartet, dass sich die beiden Kopfschmerztabletten auflösen. Allerdings ist es nicht schwer sich daran zu erinnern. Es ist eines der wenigen sich ständig wiederholenden Bilder, ein in dunklen Brauntönen und mysteriösem Licht gehaltenes Gemälde, auf dem sie in einem großen, weiten, strahlendem Bett liegt, mit Maja an ihrer Brust und düster dreinblickenden Putten, die im Zwielicht auf den fein ziselierten Bettpfosten sitzen, und einem ziegengehörnten Faun, der durch die halb zugezogenen Vorhänge blickt. Ein Bild so düster, so strahlend, wie Caravaggio es gemalt hätte.
Erinnerungsfetzen fliegen vorbei, während sie sich einen starken Kaffee macht. Sie war auf einem Ehemaligentreffen gewesen – 15 Jahre Abitur. Alte Geschichten aufwärmen, weißt du noch wie …, und der Dingens, wie hieß er noch, ist natürlich nicht gekommen, der Langweiler. Lisa hatte von ihrem Haus im Grünen geschwärmt und ihren zwei Kindern und wie toll es ist zu Hause zu arbeiten und zu übersetzen. Mo war bei H&M hängen geblieben und jammerte über ihren Stress als Filialleiterin. Anika versauerte in einem Call-Center und einer jetzt schon langweiligen Ehe, und beide beneideten Julia um ihre Unabhängigkeit. Worin sie die zwei in ihrer bereits von ein paar Drinks befeuerten Euphorie nach Kräften bestärkte. Einem Single stehen alle Wege offen. Und alle Männer. Ihre prekäre finanzielle Lage hatte sie unerwähnt gelassen und stattdessen eine Runde Cocktails spendiert. Irgendein halbgarer Typ hatte sich dann an sie rangewanzt. Was hatte sie zu ihm gesagt? Jedenfalls war er kurz davor ihr eine zu scheuern. Was hatte sie eigentlich gesagt?
Ihr Kater verweigert eine Antwort.
[…]
Sie zündet sich eine Zigarette an, wirft einen Stapel schmutziger Wäsche von ihrem Sofa und legt sich hin. Die Recamiere mit dem verrückten kunterbunten Blumenmuster, die ihr Lars geschenkt hat. Lars, der so unglaublich verliebt in sie war, sie mit Geschenken überhäufte, zu vielen Geschenken. Der sie zu ersticken drohte. Dem sie schließlich eine Trennungspostkarte schickte. Kurz, direkt und eindeutig.
„Lars, ich bin schwanger.“
Er blickte sie verdutzt an. „Was?“ Dann, strahlend: „Na, großartig!“
„Wie bitte? Was ist daran großartig?“
„…“, aber immer noch strahlend.
„Siehst du.“
Plötzlich sah er ernst aus. „Willst du mich heiraten?“
„Was??? Bist du völlig verrückt geworden? Lars, ich werde dieses Kind nicht bekommen!“
[…]
Sie stellt sich noch einmal unter die Dusche, schließt die Augen und lässt heißes Wasser minutenlang an sich herunterlaufen. Es fühlt sich gut an. Sehr gut. Sie streichelt ihre Haut, ihre Brüste, ihre Schenkel. Seit drei Wochen läuft ihr kein passender Mann über den Weg. Zu lange für ihren Geschmack. Sie hätte gern einen, jetzt, hier, unter der Dusche.
Julia mag Sex. Wenn ihr danach ist, und das ist oft der Fall. […] Sie weiß, was sie will und was nicht. Ihr Problem ist eher, dass sie danach die Lust an den Typen verliert und allein sein will, dass ihr das übliche post-koitale Gesülze auf die Nerven geht.
[…] Leider glauben die meisten Männer, nur weil sie es geschafft haben eine Frau zum Orgasmus zu bringen, müsse sie ihnen nun verliebt zu Füssen liegen. Manche sind selbst dann noch von ihrer Unwiderstehlichkeit und Einmaligkeit überzeugt, wenn das Ganze ein verkrampfter Flop oder ein kurzes Abrubbeln, ein freudloser Kaninchenfick war. Am erbärmlichsten findet sie die ihrer Erfahrung nach viel zu zahlreiche Spezies Männchen, die permanent aufgebaut und gelobt werden muss, aber sie hat einfach keine Lust auf diesen verbalen Oralsex, dieses Schwanzpinseln. Sie will Sex, möglichst guten, und wenn es mal wirklich etwas Besonderes ist, dann sagt sie es auch und fertig.
[…]
Die erste Abtreibung hatte sie mit 21, aber es war die zweite, sieben Jahre später, die sie völlig aus der Bahn warf.
Die ersten Tage danach verbrachte sie wie in Trance. Obwohl sie das doch schon einmal durchgemacht und verwunden hatte, warf sie die Erinnerung diesmal ganz auf sich selbst, schmerzhaft allein zurück, und setzte ihr mit einer Vehemenz zu, die sie nicht erwartet hatte. Monatelang reagierte sie genervt, ja aggressiv auf Kinder, brach den Kontakt zu Freundinnen mit Kindern ab. Erschrocken stellte sie fest, dass sie mit keinem Mann schlafen konnte. Sie fühlte sich wie ein sexuelles Neutrum, ein emotionaler Zombie. Ihre innere Leere, machte sie zunehmend apathischer. Dann wütender. Auf sich. Auf die Welt.
Sie verbrachte die meiste Zeit zu Hause und starrte aus dem Fenster oder an die Wand, als könnte dort irgendwann auf magische Weise eine Botschaft erscheinen, wie es weiter gehen sollte. Sie aß selten und trank umso mehr. Sie hätte eine Reportage über eine Stadtschreiberin beenden müssen, ließ aber alle Termine platzen und hatte einen heftigen Streit mit dem zuständigen Redakteur.
Selbst mit Lena verkrachte sie sich und warf sie aus ihrer Wohnung. Aber die ließ nicht locker, nicht Lena. Sie besuchte sie immer wieder und zwang sie zum Reden, brachte ihr Mon Cherie mit, die Julia ein Dutzend Mal in die Mülltonne oder aus dem Fenster warf, bis sie eines Tages vor Lenas Augen eine ganze Packung, eine Praline nach der anderen, in den Mund steckte bis ihr die Schokolade das Kinn hinunterlief und sie darüber zum ersten Mal wieder lachen konnte.
Ein paar Tage später hatte Lena „Mamma Mia“ mitgebracht und drei Flaschen Retsina, nicht irgendeinen, sondern Tsantali aus Chalkidiki, den sie zum besten Weißwein aller Zeiten erklärt hatten bei ihrem gemeinsamen Urlaub auf einem griechischen Weingut, einer der fröhlichsten Reisen, die Julia bisher gemacht hat. Natürlich hatte sie auch alle Zutaten mitgebracht für eine Moussaka, und während die im Ofen garte, sahen sie sich den Film an. Sie kannten ihn so gut, dass sie fast alle Dialoge mitsprechen konnten, und natürlich kannten sie auch alle Songs auswendig.
Endlich hatten Lena und eine Flasche Retsina es dann geschafft bei der großen Tanzszene im Garten Julia zum Mittanzen zu bewegen, wie sie es früher immer gemacht hatten. Sie sangen aus vollem Halse, dass man es im ganzen Haus hören konnte, und sprangen und stampften und wirbelten durch die Wohnung. Am Ende der Szene lagen sie sich völlig außer Atem aber Tränen lachend in den Armen. Urplötzlich waren es keine Freudentränen mehr. Julia begann zu schluchzen, dann brachen alle Dämme und sie weinte hemmungslos, minutenlang und Lena weinte mit ihr – Julia, die allen Schmerz akzeptierte und gleichzeitig losließ, und Lena befreit von der Angst ihre Freundin zu verlieren.
X X X X X
Punkt 6. Der Wecker klingelt. PETER MÜLLER stellt ihn ab, legt sich zurück. 6 Uhr 5: Der zweite Wecker klingelt. Peter wirft die Decke zurück, hälftig, schwingt die Beine aus dem Bett, die Füße schlüpfen in die rechtwinklig drapierten Pantoffeln. Er trinkt das bereit stehende Glas Wasser in einem Zug aus, steht auf. 6 Uhr 8: Die Blase entleert steht er unter der Dusche, dann Morgentoilette. 6 Uhr 22: Die Zeitschaltuhr arbeitet pünktlich; eine Tasse Kaffee, nicht zu stark, eine Scheibe Toastbrot, Becel, Marmelade, ein Joghurt. 6 Uhr 50: den restlichen Kaffee in die Thermoskanne, Pausenbrot, Apfel, eine Flasche Mineralwasser, still. 6 Uhr 57: Schuhe, Jacke, Türe zweimal verriegeln. 7 Uhr 14: in der Straßenbahn. Neben ihm, auf der anderen Seite des Ganges, wie immer, der junge Mann mit dem Bürstenschnitt, diesmal gegen die Fahrtrichtung. Die Korpulente ihm gegenüber. An der Kirchstraße steigt die große, schlanke Brünette ein. Und eine Frau, die er noch nie gesehen hat. Eine zierliche, kleine Gestalt, nicht viel mehr als 1,60, mit asiatischen Augen, dunklem Teint.
Pete fiel sie sofort auf, als sie einstieg. Eine Asiatin, wahrscheinlich aber eher Mischling. Ihr Gesicht war nicht so flach und ihre Augen waren nicht so schmal, wie er sie aus seiner Zeit in Vietnam und Kambodscha kannte. Sie war klein und wirkte zerbrechlich, aber das konnte ihn nicht täuschen. Sie bewegte sich flink und geschmeidig und unter ihrer engen Jeans und der grünen Seidenbluse war sie mit Sicherheit durchtrainiert. Vielleicht eine Turnerin oder Tänzerin. Oder sie trat in irgendeinem Zirkus auf, als Schlangenfrau.
[…]
Eigentlich kam er gut bei Frauen an. Leider dauerte es meist ziemlich lange, bis sie seine geballte Maskulinität erkannten. Er wartete auf Augenkontakt, aber ihr Blick blieb nicht an ihm hängen. Er wirkte eher unscheinbar, unauffällig und das musste er auch. Nicht beachtet zu werden hatte eindeutige Nachteile, wenn es um Frauen ging, war aber ein unbezahlbarer Vorteil in seinem Metier. James Bond Typen fielen jedem sofort auf. An James Bond Typen erinnerte sich jeder. Schlecht fürs Geschäft.
Peter Müller ist die personifizierte Unscheinbarkeit. Ein solches Gesicht zu beschreiben, ist ein Widerspruch in sich. Es ist nicht einfach nur durchschnittlich. Es gibt nichts, was man überhaupt charakterisieren könnte. Hätte er wenigsten eine dicke Nase oder abstehende Ohren. Alles ist da, wo es hingehört, aber ohne jedwede merkenswerte Besonderheit. Ein Kopf. Oval? Rund? Kantig bestimmt nicht, eher fließend, verschwommen, verwaschen, unkonkret, ein Etwas mit Augen, Ohren, Nase und Mund, unter dünnem, seitengescheiteltem Haar irgendwo zwischen stumpfblond und belanglosbraun über einem kurzen schlaffen Hals und hängenden, schmalen Schultern. Sein Gang vermittelt den Eindruck, er scheue sich den Boden zu berühren. Er hat eine undefinierbare, paradoxe Aura, die ihren Träger nicht erstrahlen, sondern verschwinden lässt.
[…]
Mit zwei Minuten Verspätung am Marktplatz. Deshalb etwas schnelleren Schrittes Richtung Mühlenstraße. 7 Uhr 45: Morgengruß an den Pförtner. Wie geht’s? Es läuft. Und wie läuft’s? Es geht. 7 Uhr 46: im Aufzug in den 4. Stock. Aus dem Fenster auf die belebte Straße blickend, die zweite Tasse Kaffee.
Punkt 8: erste Akte öffnen. Am Vortag hat er bereits die neuen Fälle sortiert, nach Schadensfallkategorien. 1. von Kindern verursachte Schäden, 2. von Erwachsenen verursachte Schäden, 3. von Tieren verursachte Schäden; A) Sachschäden, B) Personenschäden; Vermögensschäden fallen nicht in seinen Bereich; a) klare Fälle, b) dubiose Fälle, c) offensichtlicher Betrugsversuch.
Brillen. Es ist schon erstaunlich, wie häufig sich Leute auf Brillen setzen, um ihren Verwandten oder Freunden zu einem neuen Gestell zu verhelfen. Aber so einfach kommen die Leute bei ihm nicht durch. Erst mal nachfragen, den Vorgang genauer schildern. Wiedervorlage. In akkuraten Buchstaben, gleichmäßig gradliniger Schrift.
Die hat seine Deutschlehrerin immer gelobt. Der einzige Anlass zu dem er öffentlich gelobt wurde. Allerdings auch selten getadelt. Eigentlich wurde er nie erwähnt, wenn Klassenarbeiten zurückgegeben wurden. Er lag stets im Mittelfeld. In allen Fächern. Außer Sport. Da reichte es nur für eine 4. Nicht weil er zu dick oder schwächlich gewesen wäre. Ihm fehlte nur jedweder Ehrgeiz besonders schnell zu laufen oder möglichst weit zu springen. Hoch schon mal gar nicht. Er beteiligte sich auch nie am Unterricht. Selbst nach einer der seltenen Aufforderungen durch einen der penetranteren oder nicht ständig monologisierenden Lehrer antwortete er leise und einsilbig. Und so fiel er eigentlich keinem auf. Bei einem Wiedersehenstreffen seiner alten Klasse würde sich keiner an ihn erinnern. Vielleicht hat es das ja schon gegeben und er war einfach nicht eingeladen worden. Wer? Peter Müller?
[…]
18 Uhr 33. Zu seiner Überraschung darf sich Peter trotz der Stoßzeit auf einen freien Platz setzen. Zu spät sieht er die beiden Skinheads nur zwei, drei Meter von ihm entfernt. Sie sind betrunken und laut, aber er traut sich nicht aufzustehen und weiter nach hinten zu gehen.
Die beiden pöbeln ein türkisches Mädchen an, aber niemand sagt etwas. Peter behält seine Schuhe fest im Blick. An der nächsten Haltestelle steigt das Mädchen hastig aus, begleitet von üblen Beleidigungen.
„Wo kommt eigentlich all das Gesocks her?“ fragte sich Pete. Die beiden Hirnfunzeln hatten bei der Gen-Lotterie ganz offensichtlich die Arschkarte gezogen. Und was Pete mentales Sodbrennen verursachte, waren Wörter, die der menschliche Anstand verbot in Wörterbüchern zu übersetzen, und die er selbst den abgebrühtesten Huren gegenüber nicht in den Mund nehmen würde. Unter seiner rauen Schale war er nun mal ein sensibler Mensch.
Manchmal kam ihm die Stadt vor wie Gotham City. Abschaum und Pöbel wohin er blickte. Aber jetzt war er gerade in der richtigen Stimmung seine schwarzen Schwingen auszubreiten und für mächtig Blut, Schweiß und Tränen unter diesem Sumpfgewürm zu sorgen.
Pete stand auf und stellte sich leicht breitbeinig, die Schwingungen der Bahn locker abfedernd in den Gang.
„Lass die Frau in Ruhe“, sagte er so leise wie lauernd, jedoch zu subtil für den Nachkömmling eines frühzeitlichen Primaten. Dieser betrachtete Pete abschätzig, und was er sah, flößte ihm offensichtlich wenig Respekt ein, eine Reaktion, die Pete liebte.
„Halt dich da raus, du Wichser“, lallte es ihm entgegen in einem Luftzug, der Fliegen von der Decke fallen ließ.
Pete trat einen Schritt näher.
„Ich wiederhole mich nicht gerne. Also, zum Mitschreiben, was bei dir wahrscheinlich völlig sinnlos ist, aber trotzdem. Lass – sie – in – Ruhe. Und an der nächsten Station steigst du aus.“
Der Primat lachte kurz und wie er wohl glaubte grimmig. Gleichzeitig ging er auf Pete los. „Ich glaube du brauchs‘ einen auf …“ Er kam weder dazu noch etwas zu sagen, noch den Schritt auszuführen und so hing sein rechtes Bein leicht in der Luft, als ihn Petes Handballen an der Stirn traf, dass die Schädelplatte knirschte. Wie paralysiert verharrte er ein paar Sekunden in dieser Stellung, schwankte, suchte Halt und bekam gerade noch rechtzeitig die Haltestangen links und rechts zu fassen. Er starrte Pete etwas ungläubig an und schüttelte den Kopf wie ein lobotomisierter Pudel.
„Was ist? Fängt dein Hirn gerade an zu arbeiten? Ist ein seltsames Gefühl, was?“ Dann hörten selbst die Fahrgäste ganz hinten im Waggon zum vermutlich ersten Mal in ihrem Leben das Geräusch eines brechenden Nasenbeins. Zwei weitere schnelle Hiebe links und rechts und der Typ brauchte für die nächsten Tage einen Blindenhund. Dann trat Pete etwas zurück, schätzte die Entfernung ab, sprang wie ein Balletttänzer in die Höhe, holte gleichzeitig mit dem rechten Bein Schwung und trat ihm mit der Wucht eines zornigen Elefantenbullen in die Weichteile. Der Typ faltete sich zusammen wie ein Klappmesser.
In diesem Moment dreht sich der Skinhead plötzlich um und kommt auf der Suche nach einem neuen Opfer in Peters Richtung. Peter schlägt die Beine zusammen und versucht unschuldig auszusehen.
X X X X X
HANNAH KUHN blickt zur Seite. Robert schläft noch tief, atmet und schnarcht gleichmäßig. Sein kindliches Schnorcheln, das sie einmal so liebenswert fand, ist einem leisen aber regelmäßigen Sägen gewichen. Vorsichtig schlüpft sie aus dem Bett, zur Schlafzimmertür hinaus und die Treppe hinunter. In der Küche wartet sie, den Kopf an die stahlkühle Tür ihres Gefrierschranks gelehnt, auf heißes Wasser. Ihre Küche ist ein durchgestyltes, hippes Arrangement aus Stahlträgern, gefärbtem Glas und Plastikfurnieren. Sie hätte lieber Holz gehabt, das sich lebendig anfühlt, Wärme ausstrahlt, das sie gerne berührt. „Das ist altmodisch“, hatte Robert beschieden. „Und bieder.“ So war es bei fast allem. Robert hatte einen Innenarchitekten engagiert, natürlich den Angesagtesten. Sie hatten nicht wirklich darüber diskutiert. Hannah, noch ganz im 7. Himmel, sah alles mit Roberts Augen, und der war begeistert von dem vielen Glas und Stahl. Heute hat sie sich damit eher abgefunden als daran gewöhnt.
Mit einer großen Keramiktasse voll Tee, die sie damals in der Provence gekauft hatten, geht sie auf die Terrasse hinaus und blickt, noch immer schlaftrunken über ihren endlosen Garten hinweg in den allmählich sich aufhellenden Himmel. Sie geht langsam den sich windenden Pfad entlang, vorbei an den Hügeln voller Steingewächse, den Hyazinthenbeeten, den Fliederbüschen, den kunstvoll geschnittenen Buchsbäumen, dem Teich voller Rohrkolben und Lotusstauden. Die meisten Pflanzen haben bereits ihr Sommerkleid abgelegt. Sie schließt die Augen und saugt die Luft ein, findet aber nicht den besänftigenden, gelassenen Duft. Hannah streicht mit dem Finger über den winzigen Sprung ihrer Teetasse.
[…] Austoben könnte ich mich hier, hast du gesagt, einen Garten anlegen nach meinen Vorstellungen. Nach meinen Vorstellungen, klar. Du selbst hast für ‚Grünzeug’ wenig übrig, Kulisse, nichts weiter, aber präsentiert hast du den Garten immer als wärest du höchstpersönlich der Landschaftsgärtner. Im Garten austoben – und sonst? Mein Gott, ist das lange her, dass ich etwas geschrieben habe, meine Notizen verstauben so langsam. Wahrscheinlich hat schon längst jemand anders eine Dissertation darüber geschrieben. – Ich muss den Gärtner anrufen – und ein paar Rosen schneiden für die Deko heute Abend. Obwohl, das soll Kathrin machen. Ist ohnehin nicht mein Empfang. Reine Staffage. ‚Frauen sind der Spiegel, der es den Männern ermöglicht, sich selbst in doppelter Größe zu sehen‘.
[…]
Hannah räumt die Tasse in den Geschirrspüler. Sie geht durch Wohn- und Esszimmer und sammelt ein paar Gläser ein und Teller vom Abend. […] Als sie ins Wohnzimmer blickt, sieht sie noch einen Weinkelch, den sie glaubt schon weggeräumt zu haben. Wahrscheinlich hat sie ihn schon in der Hand gehalten. Und wieder hingestellt? Der Rand ist mit Lippenstift verschmiert. Sie fragt sich, warum sie ihn immer noch aufträgt. Für wen? Reine Gewohnheit.
Sie räumt ein wenig herum, pflückt verwelkte Blätter von den Topfblumen, die sie zwischen den Fingern zerbröselt, fühlt die poröse Substanz, betrachtet den feinen rieselnden Staub, eben noch tanzend im Sonnenlicht, dann gestaltlos und tot auf dem Parkett.
Feiner Blütenstaub wirbelte durch die hitzig aufgeladene Luft der Provence, und der schwere Duft betörte sie ebenso wie ihre Zweisamkeit. Drei Wochen schwelgten sie in inniger Symbiose und schwebten auf Wolke sieben, acht, neun, wanderten Arm in Arm durch Pinienhaine und pittoreske Gassen, tranken Kir zwischen ihren Küssen und kühlen Weißwein zu Austern, versanken in ihren Augen und ihrem Schoß, saßen im Garten ihres Ferienhauses, bis in die Haarspitzen verzaubert von Zärtlichkeit. Sie hielten sich an den Händen und streichelten die beiden Ringe, die Symbole ihrer Entscheidung nun das gesamte Leben miteinander zu teilen.
In guten wie in schlechten Zeiten. Wie viel gute Zeiten hatten wir? Es gab gute Zeiten, ja. Diese Farben, dieses Licht. Wir glaubten tatsächlich dieses magische Licht zu sehen, und ich habe dir begeistert beschrieben, wie Cezanne, van Gogh, Gauguin diese Szenerie gemalt haben. Damals hast du noch zugehört. – Es waren glückliche Momente. Momente. Wieso konnten wir sie nicht festhalten, diese Momente? Warum retteten wir die Magie nicht in unseren Alltag? Sobald wir zurückkamen, warst du wie verwandelt – nicht verspielt und fröhlich, eher ernst und geschäftig. Zielstrebig. Aber deine Ziele galten nicht mir.
[…]
Sie überlegt, wen sie anrufen kann. Der Kreis echter Freundinnen ist im Laufe der Jahre immer kleiner geworden, verstreut und aus den Augen verloren. Während des Studiums waren sie ständig unterwegs in ihrer Clique, hatten nächtelang geredet, sich Texte von Beauvoir bis Meulenbelt vorgelesen, billigen Wein getrunken und französische Filme gesehen. Die Dialoge von Jules et Jim konnten sie auswendig. Nur Ruth ist übriggeblieben, aber die ist jetzt auf Lanzarote, mit ihrem Neuen. Sich ihr frischverliebtes Gesäusel anzuhören, wäre jetzt ohnehin nicht, was sie braucht. Der Versuch tief durchzuatmen endet in Verkrampfung und Beklemmung.
[…]
Sie steht abrupt auf und geht die Wendeltreppe hinauf. Sie betritt ihr Zimmer. Zwei Wände voller Regale bis zur Decke, zwei Bücherschränke aus den 20er Jahren mit Glastüren und geschnitzten Zierleisten, die Schubladen im Sockel voller Seminararbeiten, Notizen und unvollendeter Übersetzungen. Unter dem Fenster mit Blick in den Garten ihr Schreibtisch. Ein Stapel Briefpapier und Umschläge, Federhalter, Bleistifte, Locher und ähnliche Paraphernalien. Links und rechts gerahmte Fotos von Laura und Jan als Babys, Kinder, Jugendliche. Die Wand voller Photographien von Virginia Woolf, Nelly Sachs, Mascha Kaléko, Jane Austen, Rose Ausländer und anderen, die sie gelesen hatte und bewundert.
„Eine Frau braucht ein eigenes Zimmer, wenn sie schreiben will.“ Nicht nur zum Schreiben. Mein „Zimmer 19“. Ah, hier. Fällt langsam auseinander.
Hannah bleibt vor dem Regal stehen und blättert in Lessings Erzählung, nickt bei ein paar Stellen, die sie unterstrichen hat. Als sie das Buch zurückstellt, wandert ihr Blick langsam zu dem Schrank, zu den Schubladen. Sie kniet sich hin, fährt mit der Hand über den metallenen Schubladenring, steht wieder auf und geht zum Fenster. Die Sonne steht links hinter der Kastanienallee und scheint noch nicht ins Zimmer. Sie setzt sich, steht wieder auf, lehnt sich auf den Tisch und setzt sich schließlich wieder hin. Die Sonne hat sich nicht bewegt. Ihr Zimmer beruhigt sie heute nicht.
X X X X X
PAUL WINTER erwacht langsam aus einem traumlosen Schlaf. Auf der Seite liegend, schaut er blinzelnd über das frische Grün der Wiesen, Tautropfen sitzen wie funkelnde Elfen auf den Grasspitzen, der Waldrand wird gesäumt von feinem Morgendunst, die Schwäne dümpeln träge auf dem noch im Halbdunkel liegenden See. Paul liebt diese Stimmung, die melancholisch erwartungsvolle
Stille des Stadtwalds. Noch stört ihn niemand.
Vorsichtig richtet er sich in seinem verschlissenen Schlafsack auf
und lehnt sich an einen Baumstamm. Es dauert eine Weile bis sich der rheumatische Schmerz in allen Gelenken löst. Er nimmt einen langen Zug aus der Wasserflasche, gegen den Nachdurst. Er schließt die Augen und lauscht in die Stille. Er vermisst die Vogeluhr, die um diese Jahreszeit weitgehend verstummt
ist […]. Er kann sie gut beobachten von seiner versteckten Warte aus, am Rande eines Weißdorngebüschs. Seit er im Stadtwald lebt, hat er ein besonderes Verhältnis zu Vögeln entwickelt, den einzigen Lebewesen, die ihn in seiner Existenz einfach akzeptieren, sich hin und wieder ein paar Brotkrumen von ihm holen und mit ihrem Gesang daran erinnern, dass es auch schöne Dinge auf der
Welt gibt. Manchmal liegt er einfach da, mit geschlossenen Augen und lauscht, entrückt von allem, von seiner Vergangenheit, der Gegenwart und der so unsicheren wie gewissen Zukunft.
Aber wie alles im Leben ist auch das nicht von Dauer, denn was sich so fröhlich anhört, ist in Wirklichkeit Überlebenskampf, das ewig neue Streiten um ein Revier, um einen Platz im Universum, den auch er einmal hatte.
[…]
Stattdessen summt er selbst – die Szene am Bach aus der Pastorale.
Sie erleichtert ihm die ersten Momente des Tages zu ertragen, hilft die Verkrampfungen der Nacht zu lösen. Es dauert eine Weile bis das Leben in seine Knochen und Muskeln zurückkehrt. Seine Glieder schmerzen, als er zuerst kniet und sich dann ächzend am Baumstamm abstützend erhebt. Es wird immer mühseliger.
Er braucht eine halbe Stunde um Müdigkeit und Schwäche abzuschütteln, wie ein aus dem Winter erwachender Bär, der nicht weiß ob er den nächsten Schlaf überlebt. Das dumpfe Hämmern in seinem Kopf lässt nach, nicht aber der undefinierbare Schmerz in seinem Inneren, an den er sich eigentlich gewöhnt hat, der einfach immer da ist, in letzter Zeit aber heftiger wird, drängender, aufdringlicher.
Er geht ein paar Meter das Gebüsch entlang, um sich zu entleeren,
schleicht dann zum See, wäscht sich und putzt sich die Zähne. Paul ist immer noch darauf bedacht nicht völlig zu verrotten. Er legt immer noch Wert auf sein Äußeres, so paradox das jenen erscheinen mag, deren bürgerliches Leben nicht in Ruinen liegt, die seine abgerissene Erscheinung und seine verschlissene Kleidung mit Verwahrlosung gleichsetzen.
[…]
Paul verstaut das restliche Wasser und Brot in seinem Handkarren, in dem sich außerdem seine Kleidung und ein paar Hygieneartikel befinden. Darüber hat er seinen Schlafsack festgebunden. Seine wichtigsten Habseligkeiten – die Regenjacke, den warmen Pullover, ein Paar Wollsocken, ein Taschenmesser, seine Brille, seinen alten Walkman mit ein paar CDs – hat er im Rucksack. Seinen wertvollsten Besitz aber bewahrt er stets in seinem Brustbeutel auf: Melanies Brief.
Paul beginnt seine tägliche Runde durch den Park auf der Suche nach Pfandflaschen, die die nächtlichen Besucher hinterlassen haben. Er streift sich Gummihandschuhe über, bevor er beginnt die Mülltonnen zu durchsuchen.[…] Die Ausbeute ist heute nur sehr bescheiden. Er setzt sich auf eine Bank, hält das Gesicht in die Sonne und ruht sich aus. Der Schmerz meldet sich zurück, eher
sanft, kaum ein Krampf, eine Erinnerung, mehr nicht. Paul konzentriert sich auf den blühenden Klee, die Kugeln aus rosafarbenen Tropfen, auf den weiß leuchtenden Steinbrech an langen, filigranen Stengeln und die winzigen gelben
Fruchtknoten, auf die Stauden zwischen den Bänken in gelb und violett, auf jedes einzelne, einzigartige Blatt, bis er den Schmerz vergessen hat.
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Der Park füllt sich mit Leben. […] Eine Gruppe herumtobender Kinder ruft in ihm ein trauriges Lächeln hervor – und eine Melodie. Es ist das Stück, das jahrelang seinen Alltag begleitete, das ihn Stress und Anspannung vergessen ließ und Momente trauriger Erschöpfung überwinden half bei dem Gedanken an Melanie. Es
ist das Stück, das er im Auto hörte, wenn er unterwegs war, oder abends im Hotel, und vor allem, wenn er von einer Geschäftsreise zurückkam und sich auf das Wiedersehen mit Melanie einstimmte. Es war zu seinem Lieblingsstück geworden an einem glückstrahlenden Maitag fünf Jahre nach Melanies Geburt.
Paul schritt, die Augen geschlossen, im Takt schwingend durch das Wohnzimmer, die Hände wie kleine Flügel auf- und abwebend. Es war das Allegro aus Mozarts Symphonie für Flöte, Harfe und
Orchester, das von ihm Besitz ergriffen hatte, das die Schwerkraft aufhob und die Seele federleicht aufsteigen ließ zum nachtigallenen Zwitschern der Querflöte und dem Bachmurmeln der Harfe. Als er einen Moment die Augen öffnete, sah er durch die Terrassentür Melanie im Garten, die auf dem Rasen sitzend in ein intensives Gespräch mit ihrem Teddybären vertieft war. Plötzlich sprang sie
auf und hüpfte im Kreis herum, die ganze Welt vergessend, nur sie und ihr Teddy, tanzend. Paul sah ihr in Trance zu. Es war ein absolut magischer Moment. Die Zeit stand still. Die Erde hielt inne. Es gab nur die perfekte Harmonie von Mozarts Klängen und Melanies Tanz. Und Paul war der glücklichste Mensch der Welt.
[…]
Paul sieht noch einen Moment lang einem Bussard hinterher, der hoch oben seine majestätischen Kreise zieht und hinter den Baumkronen verschwindet. Er verlässt den Park, um seine magere Ausbeute in einen Supermarkt zu bringen. Es hat schließlich keinen Zweck, die Flaschen lange mit sich herumzutragen. Viel bringt das ohnehin nicht mehr ein, seit immer mehr Menschen sich auf diese
Weise ein Zubrot verdienen wollen, und das sind längst nicht mehr nur Treber wie er. Paul mutet es erniedrigend an, dieser Konkurrenzkampf um Wegwerfalmosen, aber das ist immer noch besser als zu betteln, was er nur tut, wenn ihm nichts anderes mehr übrig bleibt, und seine wenigen Versuche sind nicht sonderlich erfolgreich, da er es nicht über sich bringt, den vorbeigehenden Menschen in die Augen zu sehen und so ihr Mitleid hervorzulocken.
In einer dunklen Tiefgarageneinfahrt verstaut er die Münzen in
seinem Brustbeutel, und geht weiter die Straße hinunter, an Geschäften vorbei, die er schon lange nicht mehr betreten hat, an Schuhgeschäften, Boutiquen, einer Eisdiele, Orte, die normale Menschen betreten ohne darüber nachzudenken, dass sie gerade ein Privileg genießen. Sie halten es für selbstverständlich, so wie aufstehen, duschen und frisch gekochten Kaffee trinken. Sie kaufen Vorspeisen, Gemüse, Fleisch und Wein, weil abends Freunde kommen, als sei es das Normalste der Welt.
An einem Fotoladen bleibt er stehen und betrachtet die Auslagen.
„Hierhin gucken, Melanie, hierhin. Ja, und was isst du so
gerne? Spaghettiiiiii!“ Sie lachte und kam auf ihn zugelaufen. Der
Seewind zerzauste ihre blonden Locken, Sand klebte an ihren Armen und Beinen und glitzerte in ihrem Bauchnabel. Auch davon machte er eine Aufnahme. Melanie mit ihren Schwimmringen an den Armen beim Plantschen im Meer, Melanie mit Eimer und Schäufelchen, Melanie in der Sandburg, Melanie mit einem Softeis und verschmiertem Mund, immer lachend, immer fröhlich.
„Machst du eigentlich auch noch einmal ein Foto von mir?“, fragte
Tanja. Daraufhin machten sie ein Fotoshooting. Dutzende Aufnahmen in ausgelassenen Posen, sehr zum eigenen Vergnügen wie dem der anderen Urlauber am Strand. Einer von ihnen machte dann das Foto, das von da an die Wand über dem Esstisch zierte. Tanja und Paul kniend und Melanie zwischen ihnen, mit Eimer, Schaufel und Schwimmring, und alle drei mit dem seligen Lächeln von Menschen, die glauben ihr Glück währe ewig.