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Allgemein Artikel und Essays Der tägliche Wahnsinn

Brandmal

Es ist mal wieder Zeit bestürzt zu sein, erschüttert, fassungslos. Es ist mal wieder Zeit sein Mitgefühl zu äußern, in Gedanken bei den betroffenen Menschen zu sein, jede erdenkliche Hilfe zu leisten. Es ist mal wieder Zeit zu heucheln.

Fast 13.000 Menschen in einem Lager, das für nicht mal 3.000 gedacht war. Menschenverachtende hygienische und psycho-soziale Verhältnisse, in jeder Hinsicht mangelhafte Versorgung – es war alles lange bekannt. Auch wusste jeder, dass Corona das Pulverfass entzünden konnte. Aber außer vertröstendem Geschwätz bei den einen, und schlichte Verweigerung bei den anderen hatte das Elend in Moria keinerlei Konsequenzen, von ein paar ausgeflogenen Alibikindern abgesehen. Europa hat zugesehen, weggesehen, mit den Schultern gezuckt.

Mehr noch. Einigen diente Moria der Abschreckung. Seht her: so wird es euch ergehen, wenn ihr glaubt, dass die Europäische Menschenrechtskonvention mehr ist als ein Stück Papier, das man feierlich unterzeichnet, wie eine Monstranz vor sich herträgt und anschließend im Nippesregal abstellt. Also bleibt, wo ihr seid.

Nun wird wieder, ja, zu Recht, auf Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei verwiesen, deren Regierungen, auch mit großer Unterstützung der eigenen Bevölkerung, jedwede Aufnahme von Flüchtlingen verweigern. Doch bei den anderen sieht es ja auch nicht viel besser aus. Überall in Europa ist die Angst vor dem rechtsradikalen Wählerpotential, vor den sozialen und monetären Kosten höher als das Verantwortungsgefühl für fremde, geschundene, entwurzelte und verzweifelte Menschen. So eine Konvention ist eben nur eine Absichtserklärung. Eine Erklärung, die erst noch mit – buchstäblich – Leben gefüllt werden müsste. Was in Moria fahrlässig unterlassen wurde.

In Deutschland wollten einzelne Bundesländer und 120 Kommunen, die sich im Bündnis „Sichere Häfen“ zusammengeschlossen haben, diese Verantwortung ernst nehmen. Aber ein Innenminister, der Abschiebungen als Geburtstagsgeschenk betrachtet, hat diese humanitäre Hilfsbereitschaft hartnäckig blockiert – mit dem scheinheiligen Verweis darauf, es müsse eine gesamteuropäische Lösung geben. Scheinheilig deshalb, weil Seehofer genau wusste, dass es diese Lösung niemals geben würde. Bigott sind Seehofer und seine Partei obendrein, da sie zwar alle ihre Amtsstuben mit Kruzifixen ausstatten, im Alltag ihren Heiland aber unbeachtet da hängen lassen. Da beschränkt sich die Liebe auf den Nächsten. Und der wohnt nun mal in Bayern.

Und was die viel beschworene gesamteuropäische Lösung angeht: diese billige Ausrede sollte man schleunigst vergessen. Natürlich geht es nicht nur um Moria, aber es war eines der schlimmsten Lager in Europa, ein Symbol. Es ging – und geht – um rund 13.000 Menschen, die man, rechnet man die Verweigerer (s.o.) und die vom angepeilten Verteilungsschlüssel aufgrund ihrer besonderen Situation ausgenommenen Länder (Griechenland und Italien) heraus, auf 330 Mio. Menschen hätte verteilen müssen. Und das soll Europa überfordert haben? Zu diesem Kinderspiel war Europa nicht in der Lage? Nein, es war nicht  willens!

Es wird Zeit, dass die Länder, die seit Jahren – selbstverständlich mit dem allergrößten Bedauern – auf die Immigrationsfeinde von Polen bis Ungarn verweisen, endlich ohne diese Staaten eine effektive Immigrations- und Flüchtlingspolitik betreiben. Wer nicht mitmacht, dem könnten EU-Gelder entzogen und stattdessen denen zur Verfügung gestellt werden, die Flüchtlinge aufnehmen, versorgen, integrieren, und zwar umso mehr, je größer der Anteil der Flüchtlinge im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung und je geringer das eigene BIP.

Würde ein solcher Pakt angestrebt, könnte sich allerdings auch schnell zeigen, wer es wirklich ernst meint mit der humanitären Hilfe, wer die Europäische Menschenrechts- und all die anderen Konventionen wirklich mit Leben füllen will. Es ist zu fürchten, dass sich noch ein paar Länder mehr als Verweigerer outen.

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