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Kontrollverlust

Zwar haben im Moment die meisten Menschen massive Angst vor einem Virus, der insgesamt harmloser ist als die letzte und die nächste Grippewelle, dennoch drängt sich das Flüchtlingsproblem wieder in den Vordergrund mit erschütternden Bildern und Besorgnis erregenden Entwicklungen.

In typischer Selbstüberschätzung konstatierte Horst Seehofer 2018: „Ein Kontrollverlust würde mit mir nicht stattfinden.“1 Tut er gemeinerweise aber doch. Und das ist wenig überraschend, hatte man sich dieses Problems doch auf so fadenscheinige wie langfristig wirkungslose Weise zu entledigen geglaubt. Europa und vor allem die deutsche Regierung hielt die Überweisung von ein paar Millionen € nach Ankara für ausreichend. Und ist seitdem weitestgehend tatenlos geblieben. Nun fällt ihr diese Problemverdrängung natürlich auf die Füße. Zugeschaut hat man, statt diplomatische Initiativen zu ergreifen, um im Syrienkrieg eine weitere Eskalation zu verhindern. Hat sich die EU, hat sich Deutschland aktiv darum gekümmert die Situation in z.B. griechischen Lagern zu verbessern, mit genauso viel Geld für Griechenland wie man für Erdogan flüssig hatte? Vielleicht sogar mehr Auffanglager zu bauen, um unmenschliche Verhältnisse zu beenden? Nicht einmal als Erdogan seine Syrienoffensive startete und es völlig offensichtlich war, dass dies zu neuen Flüchtlingsströmen führen würde, wachten diese Schlafmützen auf.

Unvermeidlicherweise meinte auch Christian Lindner sich mal wieder in die Brust werfen zu müssen: „Ich habe heute Frau Merkel aufgefordert, zu ihrem Wort zu stehen und dafür zu sorgen, dass sich ein Kontrollverlust bei der Zuwanderung nach Deutschland wie 2015 nicht wiederholt“1, hat er getwittert. Na, Donnerwetter, Lindner, das ist ja mal eine Ansage. Die leider zwei für Sie unangenehme Fragen aufwirft.

Kein Kontrollverlust soll ja wohl heißen: bloß nicht noch mal die Grenzen auf für Flüchtlinge, oder? Dummerweise sind die aber da, und das völlig außerhalb der Kontrolle einer deutschen Regierung, selbst der von Herrn Lindner. Der hat offensichtlich, so wie all die anderen, die in das gleiche Horn stoßen, noch nicht bemerkt, dass sich dieses Problem generell jedweder Kontrolle entzieht. Flüchtlinge machen sich auf den Weg, und zwar wie es der Begriff schon eindeutig sagt, flüchtend, mit anderen Worten unkontrolliert, nach dem Motto, bloß weg, und sie hören damit erst auf, wenn sie dort angekommen sind, wo es keinen Grund mehr gibt zu flüchten. Wer flüchtet, ruft nicht erst freundlich bei deutschen Behörden an und stellt sich dann brav in eine Schlange, hält alle nötigen Formulare in die Höhe und wartet ganz entspannt, bis ihm jemand sagt, ob er kommen darf oder nicht. Wahrscheinlich würde er nicht einmal die Warteschleife überleben.

Zweitens, Herr Lindner, haben Sie vergessen hinzuzufügen, wie Sie sich das vorstellen. Wie soll Frau Merkel hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien kontrollieren? Sie müssen es doch wissen als der Experte, der Polit-Profi, dem wir Problemlösungen aller Art überlassen sollen. Welche Konzepte haben Sie denn in den letzten Monaten diskutiert in Ihrer Partei, vorausschauend, weise, problemlösend und, natürlich, kontrolliert? Grenzzäune wie in Ungarn, mehr Polizei oder gleich die Armee? Tränengas und, wenn gar nichts mehr hilft – und es wird auf Dauer nicht helfen – schießen? Ist es dass, was Lindner und Konsorten unter Kontrolle verstehen? Nicht einmal zur Direkthilfe wollte die FDP ja sagen. Als Robert Habeck forderte, wenigsten die Kinder aus den Lagern auf Lesbos nach Deutschland zu holen, wurde dies, nicht nur, aber auch von der FDP mit populistischem Getöse als mieser grüner Populismus abgetan. Nein, die FDP hatte viel Wichtigeres zu tun – in Thüringen.

Übrigens gibt es da einen FDPler von dem bisher kaum einer außerhalb seiner Partei etwas gehört hat, der sich aber jetzt mit einem sowohl vom Umfang als auf vom Inhalt her äußerst dünnen und dürftigen Pamphlet bekannt machen möchte: Oliver Luksic mit dem 120 Seiten starken Die Angst-Unternehmer. Damit meint er selbstverständlich nicht seinen Freund Lindner, sondern den eher nebenher erwähnten Donald Trump und vor allem Greta Thunberg, die Grünen und alle „Ökologisten“1. Ausgerechnet denjenigen, denen es um das Wohlergehen Aller, um das Überleben auf dem Planeten insgesamt geht, wirft er vor, es gehe ihnen allein um “die eigene homogene[!???] Gruppe“ und für die gelte: „Emotio schlägt ratio“! Wer, wie selbstverständlich er selbst, „sachlich und rational“ argumentiere wirke heutzutage „unsympathisch“. (Mensch, Luksic, wenn du geliebt werden willst, solltest du nicht Politiker werden; such dir lieber ein paar Freunde auf Facebook).

Und diese Rationalität und fundierte Sachlichkeit sieht dann z.B. so aus: Mit Greta Thunbergs Argumenten setzt er sich gar nicht erst auseinander, sondern analysiert messerscharf, dass es absolut vonnöten sei ihr Asperger-Syndrom zu diskutieren. (Ich will ja nicht mit gleicher Münze heimzahlen, aber vielleicht interessiert es die rationale, sachliche Öffentlichkeit ja doch, ob Herr Luksic schon wegen seiner Grün-Phobie in Behandlung ist.)

Ansonsten bemängelt er, offensichtlich völlig unberührt von wissenschaftlichen Fakten in altbewährter Abwieglermanier unsachgemäße fundamentalistische Dramatisierung und „ökoritäres Denken“, insbesondere der links-alternativen Elite, die versuche „kulturelle Hegemonie über ihre Mitmenschen zu erlangen“, da eine Unterscheidung durch Konsum heute nicht mehr möglich sei (von der abstrusen Logik mal abgesehen, lebt Luksic wirklich in der BRD???). „Grüne[r] Puritanismus findet sich in der aggressiven Scham, mit der heute jedwede Art von Konsum bedacht wird. Flug-, Fleisch- oder Autoscham sollen im Namen einer grünen Weltrettung zur Askese führen.“ Jaja, die bösen Grünen, die uns alles verbieten wollen, die uns in vegane Korsetts und überfüllte Busse zwingen wollen, die uns, wenn wir sie nicht stoppen direkt vom Gate her verhaften wollen, sollten wir den Versuch unternehmen nach Malle oder auf die Malediven zu fliegen. Satire? Nicht ganz. Luksic warnt nicht nur davor, die Natur zur Gottheit zu erheben, er findet nicht nur politisierte romantische Poesie bedrohlich; nein er fürchtet allen Ernstes, dass nach der Machtübernahme fundamentalistischer Ökos Rentnern das Wahlrecht entzogen werden könnte. Hat da einer etwa die Kontrolle verloren? Nein, nein, er fragt sicher nur ganz sachlich und rational, ob es angesichts umweltbewegter linker Gewalt „bald so etwas wie eine Grüne Armee Fraktion geben“ könne.

Bleibt nur zu hoffen, dass Herr Luksic Hinterbänkler bleiben wird, oder, besser noch, einen anderen Job findet, der ihn dann auch sympathischer erscheinen lässt. Hilfreich sind solche Leute für die Lösung unserer drängendsten Probleme ohnehin nicht. Am Ende wird Herr Luksic wie alle anderen auch einfach hinweggespült.

1Zitate (Zugriff 6.3.20):

https://www.zeit.de/2020/11/christian-lindner-angela-merkel-fluechtlinge-tuerkei-twitter

https://www.zeit.de/2020/11/oliver-luksic-fdp-gruene-liberalismuskritik

https://www.blickinsbuch.de/item/c70ba1630daf7d6e4b8d8a0d9fe3d92d

https://www.europeanscientist.com/de/features-de/interview-die-angst-unternehmer-neues-buch-bei-oliver-luksic-mdb-im-deutscher-bundestag

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