Morgen ist es also endlich soweit. Die Schlacht ums Weiße Haus beginnt. Der erste Akt dieses Dramas ist die Durchführung der Wahl selbst. Was danach kommt, kann man jetzt allenfalls erahnen.
Katastrophale, entwürdigende Zustände kann nur ein absolut eindeutiger, ja fast grandioser Sieg Bidens verhindern. Es gibt Kommentatoren, die daran glauben, dass Biden klar gewinnen wird, u.a. da in wichtigen swing states die Stimmung in seine Richtung dreht und viele ältere Wähler Trumps Corona-Management kritisieren.
Aber auch hier ist, wie vor vier Jahren, Vorsicht geboten. Damals wie heute gibt es viele scheinbar unentschlossene Wähler, die in Wirklichkeit nicht offen zugeben wollen, dass sie einen asozialen Präsidenten wählen. Der Vorsprung Bidens dürfte deshalb geringer sein, als er in den aktuellen Umfragen scheint.
Zweitens ermöglicht das in vielerlei Hinsicht undemokratische, auf Zufälligkeiten basierende Wahlrecht einem unterlegenen Kandidaten dennoch zu gewinnen. Sowohl Al Gore als auch Hillary Clinton gewannen die popular vote, die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen. Das jedoch ist, wie mittlerweile jeder auch in Europa weiß, völlig irrelevant. Die einzig spannende Frage wird mal wieder sein, wie viele Wahlmänner die Kandidaten auf sich vereinigen können, und da sind an der Einwohnerzahl gemessen kleine Staaten aufgrund ihres überproportionalen Gewichts im electoral college, dem Wahlmännergremium, der entscheidende Faktor. Kalifornien (55 Stimmen) haben die Republikaner längst aufgegeben. Im für sie sicheren Bibelbelt holen sie traditionell zwischen 130 und 160 Stimmen. In Kalifornien gewinnt man eine Wahlmännerstimme pro 680.000 Einwohner, in Wyoming sind es 190.000 Einwohner! Der Wahlkampf konzentriert sich deshalb allein auf die umstrittenen Staaten, die swing states, und auf die, in denen man relativ gesehen weniger Menschen überzeugen muss, um sämtliche Wahlmännerstimmen zu kassieren. Deshalb ist der Stimmungswandel in Florida (29 Wahlmänner) für Trump so gefährlich, und selbst in Texas, dem Staat mit der zweithöchsten Zahl an Wahlmännern (38), scheint es knapp zu werden. Scheint. Aber ein Votum für einen ‚fuckin‘ liberal‘ im Redneck State???
Alle Umfragen sind, wie gesagt, mit größter Vorsicht zu genießen. Und sie gehen weit auseinander. Das eine Institut sieht Biden mit 10% vor Trump, das andere mit 5%, die einen errechnen 216 bereits sichere Wahlmänner für Biden und nur 125 für Trump (270 werden für einen Sieg benötigt), die anderen sprechen von 183 zu 77. Letzteres hieße, 50% sind umstritten, der Wahlausgang ist mithin völlig offen.
Hinzu kommt, dass die Republikaner wie üblich alles dafür getan haben potentiellen Wählern der Demokraten – Schwarzen, Hispanics, Armen – das Wählen zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Dabei greifen sie auch dieses Jahr auf altbewährte Methoden zurück. In fast allen Bundesstaaten verlieren Gefängnisinsassen das Wahlrecht, aber in den republikanisch dominierten Staaten, vor allem im Süden, verlieren sie es lebenslang! Das betrifft momentan über 6 Mio. Amerikaner, weit überproportional Schwarze. Zwar kann bspw. in Florida der Gouverneur Ex-Häftlinge begnadigen und ihnen das Wahlrecht zurückgeben – Schwarzen wird diese Gnade allerdings auffallend selten zuteil.
Zudem haben die Republikaner sich in den letzten Jahren eine weitere Schikane ausgedacht. Wollte man sich als Wähler registrieren, reichte es früher in den meisten Bundesstaaten den Führerschein oder die Sozialversicherungskarte vorzulegen. Nun verlangen immer mehr Staaten, wieder insbesondere im Süden, einen Ausweis mit Lichtbild oder gar einen staatlich ausgestellten Ausweis mit Foto – den sozial Schwache und Minderheiten aber gar nicht besitzen. Auf öffentliche Kampagnen, die darauf hinwiesen, hat man vorsorglich verzichtet. (Mit diesem Trick gewann Trump schon 2016 Wisconsin mit einem Vorsprung von rund 22.000 Stimmen; ca. 200.000 Wählern blieb ihr Wahlrecht verwehrt.)
Eine weitere Vorsichtsmaßnahme: in mehreren Bundestaaten wurden gezielt Wahllokale in schwarzen und hispanischen Vierteln geschlossen. Wie vor 100 Jahren müssen diese Menschen jetzt wegen der langen Anreise und der endlosen Warteschlangen einen Tag frei nehmen, denn – auch das eine gezielte Maßnahme, um bestimmte Bevölkerungsgruppen an der Wahl zu hindern – gewählt wird an einem Arbeitstag, und da muss man erst einmal frei bekommen (sicher kein Problem für ein schwarzes Dienstmädchen oder einen schwarzen Arbeiter in Alabama), oder sich den Verdienstausfall leisten können.
Ach ja, und Louis DeJoy, Chef der US-Post und republikanischer Hardliner, hat aus offen bekundeter Abneigung gegen die erfahrungsgemäß überwiegend bei Demokraten beliebte Briefwahl nicht nur Personal entlassen, sondern auch tausende Briefkästen abmontieren lassen. Schon allein aus diesem Grund wird das endgültige Wahlergebnis in vielen Bezirken, wenn überhaupt, wahrscheinlich frühestens in einer Woche feststehen. In jedem Bundesstaat gibt es zudem andere Fristen für den Einsendeschluss. In North Carolina werden die Stimmen mit dem Poststempel des Wahltags bis neun Tage nach der Wahl gezählt, in Pennsylvania sind es nur drei. Außerdem sind nach Recherchen des Wall Street Journal allein in den umkämpften Bundesstaaten über sieben Millionen Briefwahlzettel bisher nicht bei den Wahlämtern angekommen, allein in Florida 1,6 Mio.! All das macht es äußert unwahrscheinlich, dass der Sieger am 3. November feststeht, und das spielt Trump in die Hände, genau darauf spekuliert er. Je länger die Unsicherheit andauert, umso besser für ihn und die republikanische Partei, deren Strategie längst nicht mehr darauf beruht die popular vote gewinnen zu können.
Sollten all die Tricks und Manöver nicht reichen, um Trump vier weitere Jahre vor dem Fernseher im Weißen Haus zu sichern (sowie präsidial erfuschte Siege auf dem Golfplatz), dann stehen Amerika unruhige Zeiten bevor. Trump und seine Claqueure werden jedes ihnen nicht genehme Ergebnis anfechten. Für die zu erwartenden zahlreichen juristischen Verfahren haben beide Parteien bereits mehrere Millionen Dollar beiseitegelegt. Und man muss kein Apokalyptiker sein, um zu befürchten, dass Trump wie in Michigan dazu aufrufen wird den Staat, oder diesmal das ganze Land, zu befreien (im Mai führte dies in Lansing zur Stürmung und Besetzung des Parlaments durch einen schwerbewaffneten Mob). Die paramilitärischen Bürgerwehren und rechtsradikalen Milizen haben in den letzten Monaten noch einmal massiv aufgerüstet und stehen, auch auf Trumps ausdrücklichen Wunsch, schon bereit. Denn in der von jedweder Realität abgekapselten Welt dieses zu groß geratenen Kleinkinds ist kein Platz für die Vorstellung seinen Willen nicht zu bekommen. Vor vier Jahren hätten es die größten Pessimisten für die Ausgeburt eines kranken Hirns gehalten, dass ein amerikanischer Präsident sich weigern könnte nach einer Wahlniederlage das Weiße Haus zu verlassen. Wer Trump heute erlebt, weiß: der Mann würde auch über die Leiche der amerikanischen Demokratie gehen.
Hoffen wir mal, dass an diesem 3. November sich so viele Menschen wie nie an der Wahl beteiligen werden, denn das, so kann man hoffen, wird Biden zu Gute kommen. In der Vergangenheit jedenfalls konnten rechte Kandidaten (der Begriff ‚konservativ‘ wäre bezogen auf die USA irreführend) ihre Wählerschaft besser mobilisieren als liberale. Vielleicht ist es diesmal ja anders.
Eine Antwort auf „Bange Erwartung“
[…] befürchtet, konnte man auf die amerikanischen Umfragen nichts geben (https://www.myview-wolfgangmebs.de/bange-erwartung/). Manchen in Europa mag überraschen, dass das Rennen so eng wurde (und immer noch ist), und dass […]