Die erneute Ausbreitungswelle von Covid-19 ist erschreckend. Kein Zweifel. Sie verlangt erhebliche Einschränkungen in unser aller Alltagsleben. Kein Zweifel. Ebenso unzweifelhaft befindet sich die Menschheit immer noch in einem Lernprozess was Pandemien und insbesondere Covid-19 betrifft. Die harten Maßnahmen haben auch mit der nach wie vor großen Unsicherheit zu tun.
Allmählich wird deutlich, dass die Sterblichkeitsrate höher ist als bei einer Grippe (übrigens sterben, ein häufig gehörtes Verharmlosungsargument, auch hier nicht alle Menschen an der Grippe, sondern wie bei Covid-19 an ihren Vorerkrankungen, also durch die Grippe). Zum Glück verstummen auch immer mehr Befürworter der Durchseuchungstheorie. Erstens war sie von vornherein inhuman, da wissentlich der Tod tausender alter und kranker Menschen hingenommen, ja sogar bewusst gefordert wurde, wie etwa von dem republikanischen Vize-Gouverneur von Texas, Dan Patrick, der der Meinung ist, Großeltern sollten – und wären massenhaft bereit dazu – sich für die Wirtschaft und für ihre Enkel opfern. Da werden Alte und Kranke zu Profitverhinderern und Spaßverderbern, nach dem Motto: Ist das noch Leben oder kann das weg? Zweitens wird immer deutlicher, dass die Durchseuchung nicht mal funktioniert, da die Antikörper häufig innerhalb kurzer Zeit wieder verschwinden und sich Menschen ein zweites Mal infizieren können. Und drittens müssen wir gerade feststellen, dass es einige Nachwirkungen gibt, dass es mit dem Überstehen der Erkrankung an Covid-19 nicht vorbei ist. Zu den Spätfolgen gehören Schädigung vor allem der Lunge, aber auch anderer Organe, Hirnschäden, anhaltende körperliche Schwäche, Depression, Hörverlust.
Mit anderen Worten, manches wissen wir jetzt, manches aber noch nicht, und so reagieren die politisch Verantwortlichen in Deutschland extrem vorsichtig, was man gut nachvollziehen kann. Dennoch, die jetzt von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmen gehen zu weit – und sie sind nicht „alternativlos“, wie Frau Merkel es so gerne formuliert, wenn eine Diskussion beendet werden soll.
Beispiel Gastronomie. 90 % der Gastwirte haben alles Erdenkliche getan, um mit stark reduzierten Kapazitäten und aufwändigen Hygienemaßnahmen die Vorgaben einzuhalten und ihr wirtschaftliches Überleben halbwegs zu ermöglichen. Mehrere tausende Euro haben sie dazu bei drastisch gesunkenen Umsätzen investiert. Und das hat gewirkt! Nach allem, was wir jetzt wissen, sind Kneipen nur sehr eingeschränkt, Restaurants noch viel weniger, für die hohen Infektionszahlen verantwortlich. Unter diesen Voraussetzungen hätte man Kneipen und Restaurants nicht wieder schließen müssen.
Es hätte gereicht, wenn man dafür absolut rigoros vorgegangen wäre gegen diejenigen, die sich nicht an die lebensnotwendigen Regeln halten. Vor allem in den Großstädten müssen sich die Mitarbeiter des Ordnungsamtes immer wieder mit einzelnen Betreibern auseinandersetzen, die sich weder an Sperrstunden, noch an reduzierte Gästezahlen und Abstandsregeln halten, und das Personal weder Registrierungen durchführt noch Maske trägt. Ja, es gibt auch Kneipiers, die Anhänger von Verschwörungsmythen sind und Corona grundsätzlich leugnen und sich entsprechend asozial, nämlich die Gemeinschaft schädigend, verhalten . Diese Läden sollten sofort dicht gemacht werden. Noch am selben Abend. Und die Betreiber mit hohen Geldbußen belegt werden. Deren Pleiten können wir problemlos verkraften, wenn dafür die anderen, vernünftigen, weitermachen können.
Gleiches gilt für die tausenden Kulturschaffenden, die ebenfalls kostenintensiv Theatervorstellungen, Kabarettabende und Konzerte durchführen. Das gilt ebenso für Kinos und Museen. Sie alle sind schon lange keine Orte von Massenveranstaltungen mehr. Im Gegenteil, man könnte hunderte Beispiele anführen von Veranstaltern, die sinnvolle Hygiene- und Schutzkonzepte entwickelt und umgesetzt haben. Und wem ein Besuch der Philharmonie oder eines Jazzclubs oder eines Comedian dennoch zu gefährlich erscheint, der kann ja weiterhin zu Hause bleiben.
Die größte Gefahr dürfte ihm allerdings drohen, sollte er mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, denn hier ist erstens, außer um fünf Uhr morgens, schon das Wort Abstand ein Witz, und man kommt zweitens nirgendwo sonst Leuten, die meinen sich jedweder Vernunft widersetzen zu müssen, so nah. Auch hier wären rigorosere Maßnahmen von Nöten. Verkürzte Taktzeiten und Reduzierung der Fahrgastzahlen zum Beispiel. Zu wenig Busse und Bahnen? Zu wenig Fahrer? Von wegen. In der Tourismusbranche stehen uns tausende Busse zur Verfügung, die momentan in Garagen und auf Betriebshöfen vor sich hin rosten. Wieso mieten wir sie nicht und schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe: der ÖPNV wird sicherer und die Busunternehmen haben wieder Einnahmen und der Staat spart Corona-Zuschüsse und Kurzarbeitergeld. Gleichzeitig müssen die Verkehrsbetriebe und Ordnungsämter so viel, evtl. auch neues Personal wie möglich dafür einsetzen, anstatt Fahrkarten die Maskenpflicht zu kontrollieren. Jeder, der die Maske nicht richtig oder gar nicht trägt, muss aussteigen, bekommt eine Anzeige und muss ein hohes Bußgeld zahlen, nicht pauschal, sondern wie vor Gericht bemessen an Tagessätzen. Es gibt Menschen, bei denen jeder Appell an den Verstand zwecklos ist. Vielleicht wirkt dann wenigstens ein schmerzhafter Griff ins Portemonnaie.
Genau unsinnig ist das komplette Reiseverbot. Wer eine Ferienwohnung mietet, lebt doch prinzipiell nicht anders als zu Hause. Er ist mit seiner Familie zusammen, geht in den Supermarkt und vielleicht hin und wieder in ein Corona-konformes Restaurant. Discos und Freizeitparks mit langen Schlangen an der Achterbahn sind geschlossen. Eine Autofahrt ist ebenfalls kein Superspreader, und für eine sichere Zugfahrt muss – und kann – die Deutsche Bahn sorgen. Urlaub in Deutschland ganz zu verbieten führt nur zu Unverständnis und Verärgerung.
Die rasant steigenden Infektionszahlen sind, soviel wird immer klarer, in erster Linie auf sinkende Disziplin und auf Massenveranstaltungen zurückzuführen, auf Leute, die meinen, sie müssten auf Teufel komm raus ihren 22. oder 34. oder von mir aus auch den 50. Geburtstag mit einer Megaparty feiern oder trotz aller Warnungen eine Hundertschaft zu ihrer Hochzeit einladen. Hier bilden sich Hotspots. Oder auf alkoholvernebelten Straßenfesten. Übrigens verhalten sich die meisten Kneipiers auch hier vorbildlich. Auf der Zülpicher Straße in Köln, einer der Partymeilen, bleiben am 11.11. zu Beginn der Karnevalssaison alle Läden geschlossen! Freiwillig! Und gegen diejenigen, die partout meinen, ihr Leben mache keinen Sinn mehr, wenn sie sich nicht dicht an dicht auf den Straßen karnevalistisch austoben können, müssen Polizei und Ordnungskräfte einschreiten, und zwar so früh wie möglich, bevor die Menge erst alkoholseelig, dann schnapsaggressiv wird. Und wie die Menschen sich in ihren eigenen vier Wänden verhalten, darauf hat der Lockdown ohnehin keinen Einfluss.
Die Lehre aus den letzten Monaten muss sein, dass wir uns jetzt auf Zweierlei konzentrieren. Erstens auf den Schutz der Risikogruppen. Dass das möglich ist, ohne diese Menschen gefängnisartig wegsperren zu müssen, haben kreative Krankenhäuser und Alten- und Pflegeheime längst bewiesen. Zweitens darf es keinerlei Toleranz gegenüber Corona-Leugnern und Verweigerern geben. Wie in anderen Zusammenhängen auch duldet unsere Gesellschaft es nicht, die Gesundheit und das Leben seiner Mitmenschen mutwillig zu gefährden. Das hat nichts mit dem Ende der Demokratie, sondern mit Schutz und Sicherheit und der Verteidigung grundlegender humanistischer Werte zu tun.
Auf der anderen Seite könnten überzogene statt selektive, gezielte Maßnahmen nicht nur wenig effektiv, sind könnten auch kontraproduktiv sein. Dann nämlich, wenn immer mehr Menschen die Einschränkungen nicht mehr akzeptieren, weil sie, ja, das stimmt, verdammt lästig und zum Teil finanziell existenzbedrohend sind, und weil sie die Widersprüchlichkeit der Maßnahmen am gesamten Konzept zweifeln lässt. Im Bus darf ich enggedrängt in die Fabrikhalle, in den Schlachthof, in die Kita oder ins Altenheim fahren, aber abends nicht in meiner Stammkneipe, nachdem ich mir die Hände desinfiziert und mich mit Namen und Anschrift registriert habe, hinter Plexiglasscheiben mein Feierabendbierchen trinken und mich mit meinem hinter seiner Maske nuschelnden Wirt unterhalten?
Wer soll das noch nachvollziehen?
Eine Antwort auf „Das geht zu weit“
[…] 1 https://www.myview-wolfgangmebs.de/das-geht-zu-weit/ […]