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Allgemein Artikel und Essays

EU – in denkbar schlechter Verfassung

Was man die letzte Zeit aus der EU zu hören bekommt, vermittelt wahrlich nicht den Eindruck, als sei diese Organisation auf der Höhe der Zeit. Gerade jetzt, da es darauf ankommt zentrale Probleme in den Griff zu bekommen und sich weltpolitisch zu emanzipieren, trudelt die EU von einer so plakativen wie ineffektiven Entscheidung zur nächsten, vertagt oder ignoriert, und sitzt im Brüsseler bzw. Straßburger Sandkasten und backt Reförmchen.

Thema Rechtsstaatlichkeit

Auf geduldigem Papier wurden Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte zum Fundament Europas erhoben – und verschwanden und verschwinden genauso schnell hinter der oberflächlichen Einigkeit von Fototerminen und fundamentalen ökonomischen Interessen. Jede Hoffnung, dass die Aushöhlung der EU-Verträge und die zunehmende Autokratisierung in einigen Mitgliedsstaaten gestoppt werden, können wir getrost fahren lassen. Populisten und ‚starke‘ Männer haben Hochkonjunktur und finden auch in der EU ihren lukrativen Platz. Und das ausgerechnet mit Hilfe der deutschen Regierung. Der unsägliche Kompromissvorschlag Merkels ist ein Schlag ins Gesicht für alle, die demokratische Strukturen ernst nehmen, vor allem in Polen und Ungarn, in Rumänien und auf Malta.

Vonnöten und von vielen seit langem gefordert waren effektive Sanktionen gegen Staaten, die zu lasch gegen grassierende Korruption vorgehen, die die Medien immer stärkerer staatlicher Kontrolle unterwerfen und ihre Vielfalt einschränken, die die richterliche Unabhängigkeit und somit die Gewaltenteilung im Kern abschaffen. Solche Länder müssten eigentlich mit Strafverfahren überzogen, und ihnen müssten spürbar Subventionen gestrichen werden, denn das ist offensichtlich für einige Regime die einzige Wertegemeinsamkeit mit der EU: die Verteilung von Fördergeldern.

Dies aber ist nach dem Kompromissvorschlag der deutschen Ratspräsidentschaft vom Tisch. Sanktionen soll es demnach nur geben, sollte „die gute finanzielle Verwaltung des EU-Haushalts oder der Schutz der finanziellen Interessen der Union beeinträchtigt werden“, und selbstverständlich muss das „in ausreichend direkter Weise“ nachgewiesen werden. Geht es noch schwammiger, noch restriktiver? Kann mir mal jemand erklären, wie die direkte Einflussnahme der Exekutive auf die Besetzung und die Befugnisse von Verfassungsgerichten die finanzielle Verwaltung des EU-Haushaltes beeinträchtigen soll? Und welche abenteuerlichen Konstruktionen ich mir einfallen lassen muss, um dies ausreichend direkt nachzuweisen? Hier wollte man offensichtlich einen Beschluss ermöglichen, der vollmundige Presseerklärungen ermöglicht, aber keinem weh tut, weil er in der Praxis nichts wirklich verändert. Bis es tatsächlich zu einem Verfahren kommen sollte und alle institutionellen und gerichtlichen Instanzen durchlaufen sind gehen Äonen ins Land.

Natürlich könnten Ungarn und Polen wie angedroht die Verabschiedung des Gemeinschaftshaushalts blockieren (und somit auch die Corona-Hilfspakete). Dieses Dilemma wirft wieder einmal ein grelles Schlaglicht auf den immer zweifelhafter werdenden Zwang zur Einstimmigkeit, der nur historisch zu erklären ist und durchaus einmal Sinn gemacht haben mochte. In den letzten Jahren wurde das Einstimmigkeitsprinzip zwar eingeschränkt. Jetzt aber ist es höchste Zeit es völlig abzuschaffen. Wovor hat man denn Angst? Dass dann weniger Staaten in eine der größten Geld- (ja, teilweise auch Wohlstands-) Verteilungsmaschinen aufgenommen werden wollen? Wo doch ohnehin schon jedes neue Mitglied vor allem neue Probleme schafft und die Ressortverteilung immer neuer Kommissare immer lächerlicher erscheinen lässt? Dass dann Polen, Ungarn, Rumänien und Malta austreten? Ernsthaft? Und damit ihre Wirtschaft ruinieren? Weder sind sie so verblendet, wie die von neuer imperialer Größe träumenden alten englischen Eliten, noch bilden sie sich ein, als isolierter Nationalstaat ökonomisch reüssieren zu können. Nein, hier geht es leider mal wieder nur darum, hinter trauter Fassade zu viele Köche in zu vielen Töpfen rühren zu lassen.

Das Signal ist klar: ihr könnt intern machen, was ihr wollt und weiter unsere Subventionen scheffeln. Bleibt nur noch die Hoffnung auf das EU-Parlament, das diesen oberfaulen Vorschlag ausbremsen kann.

Thema Migration

Unnötig all die Versäumnisse der europäischen Flüchtlingspolitik noch einmal aufzuzählen, oder die Menschenverachtung der sich jeder Verteilung von Flüchtlingen auf alle EU-Staaten widersetzenden Regierungen. Alles hinlänglich bekannt. Manche Politiker verloren mehr Worte über die ‚Verbrecher‘, die Moria anzündeten, als über die inhumanen Bedingungen im Schandlager Europas. Alles nichts Neues. Bibliotheken ließen sich füllen mit Karikaturen zur „Festung Europa“. Alles eingespielte Politik.

Wobei das mit der Festung nur für diejenigen gilt, die vor Bürgerkriegen und Armut fliehen, die an den für 95 % der Flüchtenden illusionären europäischen Traum glauben. Wer über genug finanzielle Ressourcen verfügt und bereit ist unsere Immobilienblase weiter aufzublähen, den nehmen wir mit offenen Armen. Wer sich die geringste Ordnungswidrigkeit leistet oder so dumm war auf monatelanger Flucht seinen Pass verloren zu haben oder ihn einfach aus Verzweiflung, um seine geringen Chancen zu erhöhen wenigstens geduldet zu werden, weggeworfen hat, der muss damit rechnen morgens um vier rüde abgeschoben zu werden. Wer sich aber ein paar Millionen ergaunert hat und deshalb vor der heimatlichen Justiz Reißaus nehmen möchte, dem bietet Europa freudestrahlend ein neues komfortables und sicheres zu Hause.

Wie das geht? Über die „Golden Visa“ (oder „Golden Passport“) genannten Programme von Zypern, Malta oder Bulgarien (insgesamt bieten 18 EU-Länder ähnliche Programme an). Laut einer Studie der Nichtregierungsorganisation „Transparency International“ wurden in den letzten zehn Jahren in der EU rund 100.000 Goldene Visa und 6000 Staatsbürgerschaften gegen Bares ausgegeben. Erinnert sich noch jemand, wie schwierig es war ein paar hundert Kinder aus Moria herauszuholen? Mit Hilfe des Visa-Programms hat alleine Zypern 4.000 neue Staatsbürger gefunden. Voraussetzung: eine Investition von mindestens zwei Millionen Euro. In Österreich sollte es, aber gerne, das 10fache sein. Wo die herkommen? Egal. Hauptsache die neuen Mitbürger steigern das Bruttoinlandsprodukt und zwar nicht kleckernd durch ihrer Hände Arbeit, sondern klotzend auf dem Kapitalmarkt. Da kann man dann auch darüber hinwegsehen, dass z.B. nach dem Kenianer Humphrey Kariuki in seiner Heimat wegen Steuerhinterziehung und Schmuggel gefahndet wird. Oder dass der malaysische Geschäftsmann Jho Taek Low mehrere Milliarden Euro aus einem Staatsfonds auf das eigene Konto überwiesen hat (nach einer Spende von 300.000 € an den zyprischen Erzbischof Chrysostomos II und dessen Intervention ging sein Einbürgerungsantrag übrigens im Eilverfahren durch).

Immerhin, aufgrund zunehmenden Drucks sollen mehrere Einbürgerungsverfahren in Zypern überprüft werden, darunter die russischer und chinesischer Oligarchen und eines ehemaligen kambodschanischen Polizeichefs. Kritiker der Passvergabe sehen in diesen Fällen aber nur die Spitze des Eisbergs – und keine echte Bereitschaft gegen die dubiosen und hoch korruptionsanfälligen Einbürgerungsprogramme vorzugehen. Es macht für Europa eben einen großen Unterschied, ob man arm und verzweifelt, oder flüssig ist und optimistisch investiert. Für erstere gibt es Frontex und Abschiebung, für letztere Pässe und freies Geleit.

Thema Umwelt

Wow, was waren das für Ankündigungen: Aufbruch in ein europäisches ökologisches Zeitalter, Europa als Vorreiter für Klimaschutz, Paradigmenwechsel in der Agrarpolitik! Donnerwetter! Leider wird davon aber nicht mehr bleiben als ein journalistisches Blitzlichtgewitter, denn überall gibt es ohnehin seit langem massiven Widerstand – in das Wachstum drückenden Corona-Zeiten erst recht.

Jetzt also der große Wurf, bis knapp unter die Zwei-Meter-Marke, der unsere Landwirtschaftsministerin Klöckner zu Jubelstürmen hinreißt. Wobei ihr allerdings nur Ewiggestrige Gesellschaft leisten. Die EU-Landwirtschaftsminister haben sich geeinigt. Zuallererst darauf, genauso viel Geld zu verteilen wie bisher. Und zweitens an die, die das Gros auch bisher eingesammelt haben, die Großbetriebe, die Agro-Riesen. Vor allem, schon wieder, Polen und andere osteuropäische Länder wehrten sich gegen jedwede Umweltauflagen – wozu auch – konnten sie aber nicht ganz verhindern. Jetzt sollen also satte 20 % der Direktzahlungen an Bauern verbindlich in Umweltprogramme fließen. 20%! Das muss man sich mal auf der pestizidgeschwollenen Zunge zergehen lassen. So etwas nennt Frau Klöckner, Expertin in Greenwashing, einen Meilenstein. Spätere Generationen werden da wohl eher einen Grabstein erkennen. 80 % gehen weiterhin in konventionelle, überwiegend destruktive, dünger- und pestizidhörige Landwirtschaft. Und das Verteilungssystem begünstigt weiterhin die Agro-Industrie, sprich rein an ökonomischer Effizienz orientierte Großbetriebe, da weiterhin nach Fläche verteilt wird. Die dringend gebotene massive Förderung der Umstellung auf ökologische, und das heißt auch stärker kleinbäuerliche, Landwirtschaft bleibt Sonntagsreden vorbehalten. Übrigens, da wir ja so viel Zeit haben, gelten die neuen Regelungen für die osteuropäischen Länder erst in zwei Jahren. Selbstredend gibt es bisher keine klaren Regelungen darüber, was man unter „Umweltprogrammen“ zu verstehen hat. Das darf jedes Land für sich entscheiden. Was dieser scheindemokratische Kniefall bedeutet, kann man sich gut vorstellen. Auch hier kann man nur auf das EU-Parlament hoffen, das immerhin 30 % Bindung an Umweltprogramme gefordert hatte, was allerdings auch nicht den vollmundig verkündeten Systemwechsel bedeuten würde.

Wohin man also blickt, wenn es um die Lösung internationaler Probleme geht, ob europäisch oder global – von der EU sind keine ernst zu nehmenden Lösungen zu erwarten. Momentan macht die EU zunehmend den Eindruck eines disparaten Hühnerhaufens, dessen einzige Gemeinsamkeit in der Ausbeutung der Finanztöpfe besteht. Wenn man dann noch berücksichtigt, dass trotz der strukturellen, institutionellen und demokratischen Defizite Erweiterungsfantasien genährt werden, dann könnte es bald zu einer institutionellen Lähmung und zu einer Zerreißprobe kommen zwischen Rückwärtsgewandten und Progressiven, und die, die einfach nur den Status Quo verwalten wollen, werden hilflos daneben stehen. Und die EU-Bürger werden zusehen müssen, wie Europa, insbesondere angesichts des Niedergangs der amerikanischen Großmacht, die Chance verspielt eine positive, eigenständige und zukunftsweisende Rolle in der Weltpolitik zu spielen. Kein ökologischer Vorreiter, kein Vorbild für Demokratie, kein konsequenter Streiter für Menschenrechte. Nur business as usual.

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8 Antworten auf „EU – in denkbar schlechter Verfassung“

Ich stimme dir beim Thema Rechtsstaatlichkeit völlig zu und setze deinen Artikel bzw. diesen Ausschnitt morgen als Einstieg im Unterricht ein.

Freut mich zu hören. Zum einen, weil dir der Text gefällt, zum anderen, weil ich auf diese Weise sozusagen immer noch am AfG vertreten bin.

„Vergessen“ bist du auf keinen Fall. Die SuS fragten auch nach einigen Minuten, ob der Text von dir sei. Ich habe dies bejaht und sie auf deinen Blog hingewiesen.

[…] Der Druck auf Europa sich endlich von den USA zu emanzipieren, der durch Trumps rigorose, allein auf Konfrontation und Abgrenzung setzende Politik entstanden ist, wird nun wieder nachlassen, und Macrons (zugegebenermaßen nicht ganz uneigennütziger) Versuch, eine eigenständigere Position zu vertreten und den amerikanischen deutlicher als früher eigene Interessen entgegenzusetzen, wird wahrscheinlich scheitern, auch wegen der diversen Baustellen innerhalb der EU (https://www.myview-wolfgangmebs.de/eu-in-denkbar-schlechter-verfassung/). […]

Das ist schon alles mehr als traurig. Viele Jahre hatte ich die Hoffnung dass die EU gemeinsam Probleme lösen kann, Amerika die Stirn bieten kann und es sich erlauben kann seine Mitgliedsstaaten zur Ordnung aufzurufen, aber auch, dass diese durch Hilfe aufblühen und dann später allen helfen können. Aber ohne Sanktionen, wirkt es nur zahnlos und man kein weiter zusehen, wie Fördergelder weiter hinter der Landesgrenze versickern. Spätestens seit der Flüchtlingsdebatte, aber eigentlich auch schon vorher, scheint ja niemand mehr wirklich Lust auf die große Gemeinsamkeit zu haben und die meisten Länder würden ihre Grenzen am liebsten wieder zumachen, da scheint es dass der demokratische Gedanke nicht mehr auf dem Vormarsch, sondern schon lange auf dem Rückmarsch ist.
Bis es dann irgendwann mal wieder Krieg und Unruhen gibt und sich einige (kurzfristig) darauf besinnen das man gemeinsam doch stärker ist, dies dann beim nächsten Aufschwung aber auch wieder schnell vergessen, dann heißt wieder das die EU-Zahlungen das Land ja nur ausbluten lassen.

Änderungen, dem Tanker EU eine andere Richtung geben, das ist von den Institutionen wohl eher nicht zu erwarten. Und die Bevölkerung hat im Moment ganz andere Sorgen. Ich fürchte, die Pandemie wird eher nationale Abschottungstendenzen fördern.

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