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Jetzt macht mal halb lang – Über die Bedeutung von Schulstunden

Dass ich nicht viel von unserer Schulministerin Gebauer halte, habe ich ja schon mal deutlich gemacht (https://www.myview-wolfgangmebs.de/geh-bauer/). Daran hat sich auch nichts geändert. Sie hat die negative Beurteilung eindrucksvoll bestätigt. Diesmal aber möchte ich ein Argument näher betrachten, dass nicht nur von ihr ständig in die Diskussion eingebracht und als Hauptgrund dafür verwendet wird, auf generellem Präsenzunterricht zu bestehen, nämlich die Behauptung, die Schülerinnen und Schüler würden ohne Präsenzunterricht nicht wieder gut zu machende Wissenslücken anhäufen.

Mal davon abgesehen, dass es meiner Meinung nach in Wirklichkeit gar nicht um Bildung geht, sondern darum, die Versorgung von Unternehmen mit Arbeitskräften zu sichern, halte ich das für ausgemachten, völlig undifferenzierten Blödsinn, geäußert von Leuten, die wenig verstehen von Schülern, von Pädagogik, von Lernprozessen. Und vom Leben.

Erstens: Glauben diese Leute allen Ernstes, dass Schülerinnen und Schüler in ihren Lehranstalten sechs, sieben, acht Stunden lang voll konzentriert bei der Sache sind? Sind sie nicht!

An manchen gehen 45 oder gar 90 Minuten ohne die geringste innere Beteiligung vorbei. Sie spielen unter dem Pult mit dem Handy, quatschen mit dem Nachbarn, tagträumen, blicken scheinbar interessiert nach vorne, während nichts geschieht außer den normalen lebenserhaltenden Funktionen. Das hängt mit Desinteresse zusammen, mit Müdigkeit, mit persönlichen Problemen, mit schlechtem Unterricht. Verschiedene Untersuchungen weisen Besorgnis einflößend darauf hin, dass Schüler/innen im Homeschooling nur die Hälfte der Zeit (3,5 statt 7,5 Stunden) mit Lernen verbringen wie sonst in der Schule. Na und? Als würde der Zeitaufwand irgendetwas aussagen über die Effektivität des Lernens. Ich denke, ich liege nicht völlig falsch, wenn ich behaupte, dass viele dieser Lernenden die Zeit zu Hause deutlich effektiver nutzen als im Klassenraum.

Die neueste durch die Schulen getriebene pädagogische Modesau ist doch ohnehin der sogenannte flipped classroom. Die Schüler/innen sollen sich zu Hause den Stoff erarbeiten und in der Schule wird dann geübt, angewendet, diskutiert. Auch wenn ich mich gerade etwas despektierlich darüber geäußert habe, weil ich dutzende Lern- und Unterrichtsmoden erlebt habe, die alle zu ihrer Zeit als das Nonplusultra und die einzig selig bzw. oberschlau machende Methode propagiert wurden, so halte ich einiges von diesem Ansatz. Insbesondere jetzt, da er genau das eben geschilderte Problem zumindest teilweise auffangen kann. Und darüber hinaus für Corona-bedingten Distanzunterricht für die Oberstufe eine hervorragende Lösung darstellt. Die Schüler/innen konzentrieren sich sowohl zeitlich als auch interessegeleitet auf vielleicht sogar reduzierten Lernstoff, den sie aber umso gründlicher erarbeiten und in Kleingruppen in der Schule oder im Chatroom diskutieren – und dadurch festigen. Ich fand schon immer: lieber 20 Minuten mit voller Aufmerksamkeit und Interesse als 45 zähfließende Minuten oberflächlichen Dahindösens.

Zweitens: Angeblich verpassen die Lernenden unglaublich viel Lernstoff und werden das nicht mehr aufholen können. Wie bitte? Ein wenig Praxis und diese Leute wüssten, wie viel uneffektiver Unterricht verabreicht wird. Jetzt aber wird unterstellt, jedwede Sekunde in der Schule würde unsere Kinder in ungeahnte Höhen bildungsrelevanter Weihen führen. Ein wenig Praxis und man wüsste, wie viel ein Mensch an Wissen nachholen kann, sobald er oder sie wirklich will. Man sehe sich nur ehemals unzureichend geförderte Hauptschüler an, die problemlos gute und sehr gute Abiture ablegen; Schüler, die sich mit minimalem Lernerfolg durchs Abi mogeln, aber vier oder fünf Jahre später exzellente Staatsexamen ablegen und Dissertationen schreiben. Und das, obwohl ihnen Goethes Faust und Kurvendiskussionen am sprichwörtlichen Hinterteil vorbeigingen und sie keinen einzigen lateinischen Satz grade übersetzen können. Einmal ein Ehemaligen-Treffen besucht und man wüsste, dass die reine Zahl an Unterrichtsstunden oder die Abiturnote herzlich wenig über den Erfolg im Leben aussagt. Gescheiterte Einser-Abiturienten treffen da auf erfolgreiche Schulversager und auf Menschen, die in Berufen glücklich geworden sind, für die weder Abitur noch Studium nötig gewesen wären. Geschweige die Kenntnis des Zitronensäurezyklus.

Also tut doch nicht so, als würde sich alles, aber auch alles im Leben eines Menschen in der Schule entscheiden. Das sagt übrigens jemand, der mit tiefster Überzeugung Lehrer war und einen breiten Bildungshorizont für eine der wichtigsten Grundlagen für ein selbstbestimmtes und hellwaches Leben hält. Der aber auch nicht jede Minute selbst seines eigenen kostbaren Unterrichts überbewertet.

Nichts, aber auch gar nichts halte ich dagegen von dem Bildungsökonomen (allein der Begriff löst schon eine Kreideallergie aus) Ludger Wößmann, der die Lernverluste in Einkommensverluste umgerechnet hat. Mehrere zehntausend Euro in einem Berufsleben würden die verpassten Unterrichtsstunden kosten, posaunt er durch die Gazetten. Am Beispiel von Herrn Wößmann kann man sehen, dass Abitur und Studium keinerlei Garantie dafür sind, dass am Ende auch etwas Sinnvolles dabei herausspringt. Die Idee als solche, den beruflichen Lebensweg und monetären Erfolg eines zehn-, zwölf- oder 16-Jährigen über 40 Jahre im Voraus zu berechnen bei allen ökonomischen Unwägbarkeiten, was Arbeitslosigkeit, Lohnentwicklung, Finanzkrisen etc. angeht, von sozialen und politischen und persönlichen Ereignissen mal ganz abgesehen, ist ungefähr so seriös wie eine Vorhersage über Anzahl und Fettgehalt der Aale im Bodensee im Jahre 2055 anhand des Flügelschlags von Fischreihern über Mainau an einem Sonntagnachmittag anno 2020.

Dabei bin ich ja weit davon entfernt, die Bedeutung von Bildung für Berufsaussichten und Einkommen zu unterschätzen. Aber ein halbes Jahr reduzierter Unterricht ruiniert niemandes Leben! Wie eine Schülerin in einem Leserbrief im Kölner Stadt-Anzeiger schrieb: Im Moment ist mir meine Gesundheit wichtiger als meine Bildung.

Die entscheidende Frage sollte sein, wer von Präsenzunterricht am meisten profitiert bzw. darauf angewiesen ist, und wer mit Distanzunterricht gut, wenn nicht bestens klarkommt. Denn in der gegenwärtigen Situation muss doch eines klar sein: Lockdown auf der einen und überfüllte Schulbusse und engbesetzte Klassenzimmer voller Mummenschanz mit murmelnden Masken bei Temperaturen im einstelligen Bereich machen keinen Sinn. Keinen, Frau Gebauer. Da können Sie noch so stur an Ihren Plattitüden festhalten.

Hätte die Landesregierung nur ein paar Millionen von der Staatshilfe für die Lufthansa abgezweigt, dann hätten sämtliche Kinder schlecht oder gar nicht verdienender Eltern mit Tabletts ausgestattet werden können. Das wäre ein effektiver Schritt zu Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit gewesen. Schon in den Sommerferien zusätzliche Räume anmieten und zusätzliche Schulbusse bei auftragslosen Reiseunternehmen anmieten, hätte die Sicherheit von Schülern, Lehrern und Eltern erhöht. Distanz- und Wechselunterricht, siehe flipped classroom, für die Oberstufe, für Schüler, die selbstständiges Arbeiten gewöhnt sind (oder zumindest sein könnten; wenn sie es nicht sind, eben lernen müssen und endlich wirklich Eigenverantwortung für ihren Lernerfolg übernehmen müssten) – das würde Raum und Zeit schaffen für die Betreuung der jüngeren und der sozial benachteiligten Schüler, die in viel stärkerem Maße auf die persönliche Ansprache und Förderung von Lehrern und den Kontakt mit ihren Mitschülern angewiesen sind. Übrigens kann man auch in einer neunten Klasse auf eigenständigeres Lernen setzen. Man darf diesen jungen Menschen auch mal etwas zumuten – und vor allem zutrauen! Manche Lehrer und Eltern wären erstaunt, wie interessiert und aktiv so mancher ‚Hänger‘ wird, wenn man ihm die Zeit und den Raum dazu lässt.

Und was ist mit denjenigen, die zu Hause nichts tun, einfach rumhängen oder daddeln ohne Ende? Na was schon? Nichts anderes als hätte es keinen Lockdown gegeben. Die finden wie vorher auch Schule und Lernen ätzend, nervend und völlig uncool.

Die größte Gefahr bei der Schließung der Schulen betrifft die Schüler und Schülerinnen, um die sich die Bildungspolitik bisher ohnehin nur am Rande, wenn überhaupt gekümmert hat – an den völlig unterfinanzierten Haupt- und oft auch Realschulen, Kinder aus sozial schwachen und bildungsfernen Familien. Um die müsste man sich besonders kümmern. Um es mal salopp zu formulieren: Den Nachwuchs aus Mittel- und Oberschicht, aus Lehrer-, Ingenieurs- und Brokerfamilien kann man getrost vergessen. Der verpasst gar nichts, selbst wenn ein Jahr lang der gesamte Unterricht ausfiele. Denen werden Papi und Mami schon den Nachhilfelehrer finanzieren. Jetzt mehr denn je müsste die Schule da sein für die unteren 30 Prozent, denn die drohen in der Tat völlig abgehängt zu werden. Für die ist Bildung noch eine echte Chance. Für die anderen ist sie nichts als ein Privileg.

Mit anderen Worten: Liebe Kommentatoren, liebe Eltern, liebe Bildungsökonomen, liebe Frau Gebauer, macht mal halb lang. Lamentiert nicht apokalyptisch über ein paar Stunden Unterrichtsausfall. Sorgt lieber dafür, dass Junge und Benachteiligte nicht den Rest bekommen.

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