Jetzt also auch bei uns. Wie schon in den USA entpuppen sich Schlachthöfe als Hotspots für Corona-Infektionen. Rigorose Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen in allen Produktionsbereichen oder gar Schließungen, z.B. von ohnehin seit Jahren in der Kritik stehenden Betrieben, konnten wir uns ja nicht leisten, schließlich gelten auch in Deutschland Schlachthöfe als systemrelevant. Jetzt wurde zum ersten Mal eingegriffen.
Betroffen ist momentan die Firma Westfleisch, das drittgrößte deutsche fleischverarbeitende Unternehmen (aber bereits letzte Woche gab es überdurchschnittlich hohe Infektionszahlen auch bei Müller Fleisch in Pforzheim und Vion in Schleswig-Holstein). Aktuell (heute, 13 Uhr) haben sich über 150 der 1.200 Mitarbeiter in Coesfeld mit Corona infiziert, und auch ein Zweigwerk in Oer-Erkenschwick ist betroffen. Kontrolleure der Bezirksregierung stellten am Freitag fest, dass in Coesfeld entgegen den vollmundigen Versicherungen der Geschäftsführung weder im Zerlegebetrieb, noch in den Umkleiden die Infektionsschutzvorgaben eingehalten wurden (u.a.: https://www.wn.de/Muensterland/4198438-Landesregierung-schliesst-Westfleisch-Vorgaben-wurden-nicht-beachtet). Jetzt wurde der Betrieb nach tagelangem Zögern dann doch geschlossen. Das Hauptproblem sind diesmal allerdings nicht die mehr als fragwürdigen Abläufe in den Schlachthöfen selbst, sondern der Umgang mit den Angestellten (wobei ich jetzt mal den eigentlich ziemlich euphemistischen Begriff verwende).
Rund die Hälfte der von der Firma Beschäftigten sind Wanderarbeiter aus Osteuropa, die in von Westfleisch angemieteten Massenunterkünften leben, solange sie zu Dumpinglöhnen für die Firma schuften. Die Lebensbedingungen in den Unterkünften lassen schon zu normalen Zeiten das meiste zu wünschen übrig; in Corona-Zeiten sind sie katastrophal. Diese Menschen leben auf engstem Raum mit minimaler Ausstattung. Schließlich sollen die ja nur schlafen und irgendwann wieder dahin, wo sie herkommen. Nun gilt das nicht nur für Westfleisch und nicht nur für die Fleischwirtschaft. Jeder, der wollte, könnte es seit Jahren wissen, dass sich in Deutschland hinter den Begriffen Saison- und Wanderarbeiter moderne Formen der Sklaverei verbergen. Bei unserer Fleischproduktion spielen sie allerdings eine dominierende Rolle.
Ob jetzt mehr Menschen darauf aufmerksam und vielleicht sogar ein bisschen nachdenklich werden, weil, wie im Kreis Coesfeld, jetzt die Lockerungsmaßnahmen zurückgenommen werden, die Menschen also selber indirekt von diesen Verhältnissen betroffen sind? Werden sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse jetzt breit diskutiert und abgeschafft? Höchstwahrscheinlich nicht. Es würde mich zumindest immens überraschen.
Sicher werden ein paar Artikel geschrieben werden und das eine oder andere Feature für Radio und Fernsehen, mit herzzerreißenden Beispielen von Arbeitern und Unterkünften, und dann werden wir das ganz schnell wieder vergessen, genauso wie die Näherin in Bangladesch und den Kobaltschürfer im Kongo. Zwar spielt sich das nicht weit weg ab, sondern hier vor Ort, direkt vor unserer Nase. Aber es geht um unser Fleisch. Um ein Stück unserer ‚Lebensqualität‘! Und um unseren Geiz. Ein reduziertes Angebot an totem Tier, eine Begrenzung des Massenabschlachtens können wir uns nicht leisten. Höhere Preise? Wovon sollen wir uns ernähren? Etwa von Kaninchenfutter?
Wir wissen seit einer Ewigkeit um die katastrophalen Folgen unseres zerstörerischen Fleischkonsums, um Umwelt- und Klimaschäden, um Tierquälerei, Zivilisationskrankheiten und multiresistente Keime, ja selbst um die schlechte Qualität der meisten Produkte, um Wasserkoteletts und Klebeschinken. Na und? Wissen ist Macht, führt aber noch lange nicht zu Vernunft. Seit Jahren hat noch jeder Fleischskandal nichts weiter bewirkt als eine kurze Empörungswelle, und in den letzten Jahren zu einem minimalen, insgesamt aber völlig wirkungslosen Rückgang des Fleischkonsums (im Jahr 2000: 61,5 kg/Kopf, 2019: 59,5 kg/Kopf). Nur noch die Hälfte Fleisch zum doppelten Preis? In Deutschland? Glaubt wirklich jemand, dass es eine nennenswerte Zahl unter den zigmillionen Grillfanatikern gibt, die sich diesen Sommer ausgerechnet von der Massenmenschhaltung im Schlachtgewerbe den Geschmack verderben lassen werden? Die sich schon für Ökos und Fast-Vegetarier halten, weil neben dem dutzendfachen Würstchenmüll für 4,99 das Kilo auch eine halbe Paprika schmort? Die ernsthaft behaupten nur drei-, viermal die Woche (das fünfte Mal zählt nicht, war ja nur Speck) Fleisch zu essen, sich aber jeden Tag Wurst aufs Brötchen packen? Die sollen wegen ein bisschen Ausbeutung ihre Essgewohnheiten ändern? Die stört die Mehrheit doch auch nicht, wenn es um Smartphones und T-Shirts, Tomaten und Kaffee geht. Und wenn jetzt reihenweise Schlachthöfe dichtmachen müssen und es zu Engpässen bei der Fleischversorgung kommt? Nach den Dramen, die sich um Toilettenpapier abgespielt haben, mag man es sich nicht vorstellen! Dann kommt es zum Krieg der Carnivoren.
Nein, der wohlstandsverwöhnte Mensch ist zu dumm, zu egozentrisch, zu geizig, um sich aufgrund purer Information oder gar Einsicht zu ändern. Vergesst den rationalen Verbraucher und erst recht den mitfühlenden. Ohne politische Regelungen, ohne höhere und effektiv durchgesetzte (!) Mindestlöhne, ohne ein Verbot der Stallhaltung von Wanderarbeitern wird sich nichts ändern.
2 Antworten auf „Massenmenschhaltung“
[…] für ein paar nette Schlagzeilen, solange sich die Leute wirklich für das Thema interessieren (https://www.myview-wolfgangmebs.de/massenmenschhaltung/). Statt die unhaltbaren Zustände in der Massentierhaltung schlicht zu verbieten, gibt es jetzt […]
[…] ändern. Von carnivoren Verbrauchern, denen Quantität vor Qualität geht, ist nichts zu erwarten (https://www.myview-wolfgangmebs.de/massenmenschhaltung/). Ihnen ist nach wie vor das tägliche billige Stück Fleischfaser auf Teller und Brötchen […]