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Allgemein Artikel und Essays Der tägliche Wahnsinn

Ernte

Ist jemand wirklich überrascht über das, was momentan in den Staaten geschieht? Mich hat eher gewundert, dass es nicht schon früher geschah, denn Obama hin oder her, am strukturellen Rassismus in den USA hat sich nie etwas geändert (https://www.myview-wolfgangmebs.de/the-times-they-are-a-changing/). Aber jetzt ist wohl das Fass übergelaufen. Black lives matter, war der letzte verzweifelte Aufschrei nach dem Tod von Trayvon Martin 2013 und dem Freispruch seines Mörders. Dann starben

Michael Brown

 Eric Garner

Dontre Hamilton

John Crawford III

Christian Taylor

Renisha McBride

Justus Howell

Walter Scott

Meagan Hockaday

Aiyana Jones

Yvette Smith

Rekia Boyd

Timothy Russel

Malissa Williams

Tony Robinson

Sandra Bland

Samuel DuBose

Mansur Ball-Bey

Jonathan Ferrell

Jamar Clark

durch Polizeigewalt. Die Polizisten wurden gar nicht erst angeklagt, freigesprochen oder die Verfahren wurden eingestellt. Todesfälle quer durch die USA, nicht nur im Zuständigkeitsbereich des als notorisch rassistisch bekannten LAPD, des Los Angeles Police Department. Und die Liste ließe sich fortsetzen. Z.B. mit dem zwölfjährigen Tamir Henderson, dem seine Spielzeugpistole das Leben kostete, oder dem unbewaffneten Kajieme Powell, dem die offensichtlich um ihr Leben fürchtenden Polizisten, nachdem sie ihm, 15 Sekunden nach Verlassen ihres Streifenwagens, 10 Kugeln in den Leib gejagt hatten, auch noch Handschellen anlegten. Plus all die anderen Fälle, die gar nicht erst auffällig werden, weil es keine Zeugen gibt (wie die in den USA vergleichsweise hohe Zahl von Menschen, die in Polizeigewahrsam misshandelt werden und sterben), oder weil niemand ein Video der Tat dreht, wie im aktuellen Fall, oder dem bisher wohl ‚berühmtesten‘, dem von Rodney King.

Dass die amerikanische Polizei massiv rassistisch durchsetzt ist, das ist nun wirklich nichts Neues, und es trifft Schwarze wie Hispanics. Racial Profiling, Kontrollen, Verhöre und Verhaftungen aufgrund ethnischer Merkmale, ist in den USA zwar verboten, aber nach wie vor alltägliche Praxis. Selten wird das öffentlich, wie im Falle von Joe Arpaio, dem selbsternannten, und zum Glück ehemaligen „härtesten Sheriffs“ Amerikas. Der war nicht nur für seine Brutalität bekannt, sondern auch für racial profiling, das er ganz offiziell fortführte, obwohl es ihm gerichtlich verboten wurde. Zwar wurde er dafür tatsächlich zu sechs Monaten Haft verurteilt, dann aber von Donald Trump begnadigt, wegen seines “beispielhaft selbstlosen Dienst an der Öffentlichkeit” und „mehr als 50 Jahren bewundernswertem Dienst an unserer Nation“, um „die Öffentlichkeit vor den Geißeln des Verbrechens und der illegalen Einwanderung” zu schützen, so Trumps Begründung1.

Neben rassistischen Motiven ist die paranoide Ausbildung ein weiteres Problem. Über ein Motto wie „die Polizei, dein Freund und Helfer“, würden sich die meisten Amerikaner schlapp lachen, vor allem Polizisten. Für sie ist die Gesellschaft der Feind. Ihnen wird in der Ausbildung eingetrichtert, dass sie in absolut jeder Situation zuallererst sich selbst schützen müssen, dass sie immer mit zu allem bereiten Kriminellen rechnen müssen.2 Nun mag man ja glauben, dass das berechtigt ist in einem Land, in dem rund 300 Mio. Schusswaffen in Umlauf sind. Anders als Fox News und die ewigen amerikanischen Kriminalserien glauben machen, liegt die Polizei faktisch aktuell aber erst auf Platz 14 der gefährlichsten Berufe, in manchen Jahren noch tiefer, weit hinter Farmern, Dachdeckern und Waldarbeitern.

Nein, es ist nicht die tatsächliche Bedrohung, es ist die gesamte Einstellung, es ist das System, das auf Gewalt und Repression setzt, auf paramilitärische Ausbildung und Ausrüstung, die unter Trump noch einmal verschärft wurde. (Floyds Bruder Terrence forderte Schwarze auf wählen zu gehen und sich zu bilden. Letzteres hätten vor allem Amerikas Polizeikräfte nötig, statt regelmäßig zu trainieren Kopf und Herz zu treffen, und erst zu schießen, und dann zu verhören.)

Und das Wichtigste: Was mussten Schwarze denn erfahren seit Obama? Dass sich nichts geändert hat!  Dass sie nach wie vor überproportional häufig in Verkehrskontrollen geraten, dass nach wie vor jedes Viertel mit hoher afro-amerikanischer Bevölkerung als krimineller Hotspot gilt, dass sie schneller als andere im Gefängnis landen, dass ihre Kindersterblichkeit deutlich höher ist als die der Weißen, dass ihre Schulen weniger Geld erhalten, dass sie geringere Löhne bekommen, dass aufgrund des unsozialen Gesundheitssystems überproportional viele Schwarze durch Covid-19 sterben, und dass sie unter einer Regierung leben müssen, die mehr Sympathien für White Power und den Ku Klux Klan hat, als Verständnis für ihre prekäre Lebenssituation.

Deutlicher hätte es nicht werden können. Statt zu versuchen die Wogen zu glätten, gießt Trump mächtig Öl ins Feuer. Statt klarer Worte zu uniformierter Gewalt und Anteilnahme mit der Familie des Opfers, heizt er die Atmosphäre auf und droht mit exzessiver Gewalt. Zu einem Telefonat mit George Floyds Familie mussten ihn seine Berater erst drängen – dass dann nach einem Selbstgespräch Trumps auch schon wieder beendet war. Er wollte nicht einmal hören, was der Bruder des Ermordeten zu sagen hatte.  Mehr Empathielosigkeit geht nun wirklich nicht. Stattdessen verkriecht sich der Feigling sofort im Bunker, weil ein paar zu Recht aufgebrachte Demonstranten am Zaun des Weißen Hauses rütteln.

Neben den leider üblichen rücksichtslosen Übergriffen gewaltbereiter Ordnungshüter3 (welche Ordnung die hüten ist wohl klar), gibt es erfreulicherweise auch ein paar wenige Polizisten, denen das, was ihre Kollegen anrichten, allmählich doch zu weit geht, die aus Solidarität vor den Protestierenden niederknien. Oder wie einem der neuen Helden der Protestbewegung, der, in den USA eine symbolische Geste, den Helm abnimmt, beruhigend und verständnisvoll mit den Demonstranten redet und sich sogar dem Demonstrationszug anschließt.4 Mal sehen, wie lange er seinen Job noch hat.

Wie es weitergeht? Die jetzige Atmosphäre, Trumps Verhalten (wie die brutale Räumung der Straße, auf der er zur St. John’s Kirche wollte, um dort mit der Bibel in der Hand für seine evangelikalen, gehirngewaschenen Anhänger zu posieren; auf einem der Fotos betrachtet er die Bibel als würde er sich fragen, was da wohl drinsteht), seine martialischen Drohungen, der Aufmarsch der Nationalgarde und die rechtsradikalen Gruppen, die sich unter die Demonstranten mischen – all das verheißt wenig Gutes. Und auch das nicht: Der amtliche Untersuchungsbericht zum Tod George Floyds spielt den Fall herunter und scheint schon den Boden zu bereiten für eine Entlastung des Täters, mit der Behauptung, das Opfer sei gar nicht erstickt, sondern Rauschmittel und eine Vorerkrankung seien für Floyds Tod verantwortlich. Glücklicherweise hatte Floyds Familie, die zu Recht der offiziellen Untersuchung misstraut, selbst eine Autopsie in Auftrag gegeben, die dem offiziellen Bericht in allen Punkten widerspricht. Ob es ihnen gelingt, sich gegen die, in der Regel auf Seiten der Polizisten stehenden Behörden durchzusetzen, und was mit Derek Chauvin, nomen est omen, geschieht, wird mit darüber entscheiden, ob in den USA in den nächsten Wochen und Monaten wieder einmal die Ghettos brennen, und diesmal vielleicht nicht nur die.

Ich hoffe, es ist unnötig noch zu erklären, dass jedwede Gewaltanwendung, Plünderungen etc., dass alles, was zur weiteren Eskalation führt, abzulehnen ist. Natürlich wäre mir auch lieber, es gäbe keine Plünderungen, keine gewalttätigen Angriffe, keine Brandstiftungen. Aber verstehen kann ich diese Menschen. Sehr gut sogar. Ihre aufgestaute Wut ist das Ergebnis nicht nur ihrer eigenen Lebensumstände, sondern von über 200 Jahren Unterdrückung, von Ungerechtigkeit, von Missachtung, und von Hilflosigkeit, geboren aus den fehlenden institutionellen Möglichkeiten real und für die Mehrheit der Schwarzen, nicht nur für eine handvoll Sportler und Entertainer etwas zu ändern, aus dem Gefühl, dass nicht einmal acht Jahre unter einem schwarzen Präsidenten irgendetwas Grundlegendes in ihrem rassistischen Land geändert haben, dass ihnen im Gegenteil mindestens vier weitere Jahre Rückfall in alte, noch schlimmere Zeiten drohen.

Die USA ernten gerade den Sturm, den nicht nur Trump gesät hat.

1                 https://www.zeit.de/politik/ausland/2017-08/joe-arpaio-donald-trump-sheriff-rassismus-begnadigung; https://www.sueddeutsche.de/politik/usa-trump-begnadigt-haertesten-sheriff-amerikas-1.3641700

2          https://www.cashkurs.com/beitrag/Post/polizeikraefte-die-sich-niemandem-mehr-verantworten-muessen-was-wir-aus-ferguson-co-lernen/ [Hier finden sich auch links zu Polizeivideos.]

3 https://twitter.com/JordanUhl/status/1266917228752056320?fbclid=IwAR2UhRgaVvaW0MHLEPWUuJe0x8lS7cqZEEIPF7Mmafy0GOOLzM4fU8821qk

4          https://twitter.com/RexChapman/status/1267107339833925634?ref_src=twsrc%5Etfw%7Ctwcamp%5Etweetembed%7Ctwterm%5E1267131206681886722&ref_url=https%3A%2F%2Fwww.cnn.com%2F2020%2F05%2F31%2Fus%2Fflint-michigan-protest-police-trnd%2Findex.html

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