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Gedankensplitter:   Antidemokratisches

Großbritannien. Das Mutterland der feuchtfröhlichen Regierungsform und des frisurresistenten Clowns. Ein selbstbesoffener Partylöwe erlaubt sich Skandal um Skandal und badet in einem Fettnäpfchen nach dem anderen. Wovon selbst mancher konservative Wähler genug hat, aber seine Partei traut sich nicht, ihn abzusetzen. Und warum? Weil es momentan keinen Kandidaten gibt, den die Tories besser finden als Johnson, weil es mit anderen Worten keinen in dieser Partei gibt, der vertrauenswürdiger, fähiger und weniger elitär ist. Was ein Armutszeugnis.

USA. Live im TV: die Aufarbeitung des Sturms auf das Kapitol. Live: die Demontage des autokratischen Idols Trump und all seiner Lügen. Live: schockierende Aussagen ehemaliger Mitarbeiter. Ein Ex-Justizminister, der offen zugibt, dreist gelogen zu haben. Ein Ex-Präsident, der seinem Vize den Galgen gönnt. Aber nicht auf allen Kanälen. Fox News z.B. überträgt nicht. Ist ihnen keine News wert. Und Millionen von Amerikanern sehen es sich freiwillig gar nicht erst an. 75 % der Anhänger der Republikaner verweigern sich nach wie vor der Rationalität und Realität. Amerikas Leuchtfeuer der Demokratie – eine Funzel.

Frankreich. Der Rechtsradikalismus jubiliert, auch aufgrund politischer Frustration, sprich Wahlenthaltung. Marine Le Pen und ihr multiphobes RASSEmblement National erzielen ihr bestes Ergebnis bei Parlamentswahlen und verelffachen die Anzahl ihrer Sitze. Man sieht, wie wenig demokratische Traditionen bedeuten können. Von wegen liberté, égalité, fraternité. In Frankreich erinnern sich immer mehr ‚citoyens‘ offensichtlich lieber an das Vichy Regime. Welch morbide Nostalgie.

Deutschland. In der AfD wurde gerade eine dezidiert rechtsradikal-nationalistische Parteispitze gewählt. Da gab es klare Mehrheiten. Für Brandstifter wie Brandner und Boeringer, Chrupalla und Weidel. Und die Strippen zog mal wieder Höcke, der Möchtegern-Führer.

Auch war den Delegierten klar, dass man, wie es Hans-Thomas Tillschneider aus Sachsen-Anhalt durch seine braune Brille sieht, in einem „Weltkampf“ stehe „zwischen Globalisten und Nationalstaaten“. Und da steht man fest an der Seite der Rus – und das, obwohl die doch für sich beanspruchen, das westliche Modell abzulösen und seine Heimat zu unterwerfen. Streit gab es dann darüber, wie und wann die EU abzuschaffen sei. In bester Tradition haben die Führer die Diskussion und den ganzen Parteitag für beendet erklärt und alle heim ins Heim geschickt.

Insofern hat die Partei alle Erwartungen erfüllt.

Für Annalena Baerbock gilt das nicht. „Aufgrund schwerwiegender Verstöße gegen grundlegende Freiheitsrechte der Europäischen Menschenrechtskonvention im Umgang mit Julian Assange, fordern wir [seine] sofortige Freilassung“, sagte sie so zutreffend wie angemessen noch am 19.9.2021. Offenbar öffneten ihr dann sensationelle und der deutschen Öffentlichkeit leider nicht zugängliche Unterlagen die Augen und sie erkannte, wie uninformiert und deplatziert sie früher dahergefaselt hatte. „Die Bundesregierung hat keinen Anlass, an der Rechtstaatlichkeit des Verfahrens und des Vorgehens der britischen Justiz zu zweifeln“, verlautbarte sie am 9.2.22.

Jetzt ist es entschieden: Julian Assange soll an die unverhohlen rachsüchtigen und jeder Rechtsstaatlichkeit hohnlachenden amerikanischen Behörden ausgeliefert werden. Und was sagt dazu die Regierungssprecherin Christiane Hoffmann? In dem Verfahren gegen Julian Assange „müssen unterschiedliche Schutzgüter gegeneinander abgewogen werden“ und zwar „des Schutzes der Meinungs- und Pressefreiheit im Spannungsfeld mit Fragen des staatlichen Geheimnisschutzes [und] berechtigter Sicherheitsinteressen“. Soll wohl heißen: Wir verstehen sehr gut, dass Kriegsverbrechen und – verbrecher im Dunklen bleiben wollen und dass das auch mal wichtiger sein kann als Menschen- und Bürgerrechte.

Frau Baerbock, in Anbetracht Ihrer vollmundigen Ankündigungen, was unsere neue Außenpolitik angeht, ist es jetzt endgültig Zeit, klar und unmissverständlich für Julian Assange Stellung zu beziehen. Bisher ist das Verhalten der Bundesregierung ein demokratisches Trauerspiel.

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