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Die Zwickmühle, Schäuble und das Leben

Corona und kein Ende? Hoffentlich nein, aber das Thema wird uns noch lange Zeit erhalten bleiben. Allen Verschwörungstheoretikern und Wirklichkeitsverweigerern zum Trotz – das Virus ist reell und hartnäckig, auch wenn sich alle möglichen Leute mit Vorhersagen übertrumpfen, wer schon alles wie nah an einem Impfstoff ist, auch wenn zu viele Menschen gerne glauben wollen, dass nur weil es ein paar Lockerungsübungen gibt, alles überstanden sei und wir morgen, spätestens übermorgen wieder so wie früher leben können, dass einfach wieder alles beim Alten ist.

Ich hoffe nicht.

Was sich alles ändern muss, was wir unabdingbar aus dieser historischen Episode lernen müssen, wurde und wird ja in zahlreichen Medien und Kommentaren beschrieben (auch bei mir: „Corona – und dann?“/1-3: https://www.myview-wolfgangmebs.de/corona-und-dann/). Allerdings lässt, was momentan geschieht nichts Gutes ahnen.

Natürlich stecken wir alle in einer Zwickmühle, kennen wir alle die oft dramatischen Auswirkungen des Lockdown, die immensen Probleme auf allen Ebenen, von Existenzängsten kleiner Unternehmen und Selbständiger bis zu häuslicher Gewalt, von Vereinsamungsdepressionen bis zum allein sterbenden Ehepartner, und diese prekären Situationen verlangen nach praktikablen, die Risiken abwägenden und langfristig effizienten Lösungen. Das schnelle Zurück zur sogenannten Normalität gehört nicht dazu – denn es spielt mit Menschenleben.

Meine Beobachtungen des alltäglichen Verhaltens sind widersprüchlich. Die meisten Menschen halten immer noch Abstand, und zu einem massenhaften Run auf die wieder geöffneten Geschäfte ist es bisher nicht gekommen. Auch werden endlich mehr Masken in Supermärkten und öffentlichen Verkehrsmitteln getragen. Die Jogger, die rücksichtslos dicht an einem vorbeihoppeln und gedankenlos was auch immer in die Luft hecheln – hoffen wir mal auf harmlose Aerosole –  gab es auch vorher. Andererseits sieht man in den Parks wieder größere Gruppen beisammen sitzen und hört und liest vermehrt von denen, die den Lockdown ohnehin für übertrieben bis überflüssig halten, und denen die Öffnungen nicht weit genug gehen.

Die überwiegende Kaufzurückhaltung hängt mit Sicherheit nicht mit einer allgemein veränderten Einstellung dem Konsum gegenüber zusammen, sondern schlicht und einfach damit, dass vielen Leuten das Geld fehlt. Der eine oder die andere mag ja überrascht festgestellt haben, dass es ihnen gar nicht schlechter geht, obwohl sie gerade nicht durch Schnäppchen wühlen und den allerletzten textilen Schrei spazieren führen können. Ich fürchte aber, dass diese schon buddhistisch anmutende Erkenntnis nur Wenigen gekommen ist, und spätestens in ein paar Monaten dem üblichen Man-gönnt-sich-ja-sonst-nichts und einem Jetzt-erst-recht gewichen ist, und die Mehrheit wieder des westlichen Konsumbürgers liebstem Hobby, dem Shoppen-Gehen, frönen wird.

Kurzfristig. Da in manchen Bundesländern auch größeren Geschäften, Möbelhäusern etc. erlaubt wird ihre Türen zu öffnen, wird es in Straßenbahnen und Bussen, in Fußgängerzonen, Shopping-Centern und Konsumtempeln schon bald wieder ziemlich voll sein – und damit die zweite Infektionswelle beginnen. Aber statt denjenigen, die ohnehin schon nur einen kleinen Krümel abbekommen und am stärksten von Insolvenz bedroht sind, den kleinen, oft von dominierenden Ketten unabhängigen Läden, das Überleben zu sichern, machen sich viele Politiker (vor allem in CDU, FDP und AfD) mehr Sorgen um die dicken Fische, die nicht nur fette Notfallhilfen abkassieren, sondern sich insgeheim über das Ableben lästiger Konkurrenz freuen können – wie unabhängiger Buchläden und Boutiquen, Elektro-, Gemüse- und Blumenläden.. Es ist zu fürchten, dass uns in ein, zwei Jahren nur noch Saturn und Media-Markt, die Meyersche und Ikea, Aldi und Jaques Weindepot zur ‚Auswahl‘ stehen.

In über Jahrzehnte indoktrinierten Produktions- und Wachstumshirnen schwurbelt nur die eine Angst, dass plötzlich sogar der Mehrheit – nachhaltig – bewusst werden könnte, dass endloses Wachstum kein Heilsbringer, und alternative Wirtschaftsformen praktikabel und sinnvoller sein könnten, auch während einer Pandemie. Ich bezweifle leider, dass feuilletonistische Gesellschaftsentwürfe und ökologische Wachstumsideen, die momentan so manche Zeitungsseite füllen, nach der Krise noch viel Gehör finden werden, wenn es darum geht die weltweite Produktions- und Konsummaschinerie wieder anzuwerfen, genau so wenig wie CO2-Steuer und Förderprogramme für regenerierbare Energien. Die entsprechenden Lobbyisten sitzen schon jetzt nicht nur in den Startlöchern und fordern, was sie schon immer gefordert haben: noch niedrigere Steuern und noch weniger ‘Regulierung’ (die übliche negative Umschreibung für Maßnahmen, die zwar im Interesse der Gemeinschaft vernünftig sind, aber aus Renditeerwägungen nicht freiwillig ergriffen werden). Da wird das Klima erst recht warten müssen. Und glaubt wirklich jemand ernsthaft, dass der bald wieder hochverschuldete deutsche Staat die nötigen Einnahmen durch einen Solidaritätsbeitrag der oberen 10% generieren wird, statt wie sonst üblich den Sozialstaat zu beschneiden? Vor allem, wenn man sieht, welche Parteien gerade im Aufwind sind.

Schon jetzt wird viel Geld dahin gepumpt, wo es immer noch vorhanden ist – wie in Unternehmen, die von ihren üppigen Gewinnen Aktien zurückkaufen, um ihre eigenen Börsenkurse steigen zu lassen und nun urplötzlich angeblich vor dem Kollaps stehen. Für Konzerne wie VW oder die Lufthanse stehen Milliarden und fadenscheinige Antragsverfahren zur Verfügung, während man Sozialhilfeempfänger, deren Kinder jetzt beispielsweise auf das kostenlose Schulessen verzichten müssen, mit unzureichenden Almosen abspeist und mit bürokratischen Hürdenläufen belästigt.

Das gleiche dürfte für diejenigen gelten, für die gerade so fleißig geklatscht wird. Wirksame Lohnerhöhungen und bessere Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen in allen Pflegeberufen wird es dem jetzigen wohlfeilen Geschwätz zum Trotz nicht geben. So steigt der Mindestlohn für Hilfskräfte um sagenhafte 192 € brutto im Monat – ab 2022! Für Vollzeitbeschäftigte – die nur ein Drittel des Pflegepersonals ausmachen! (Altenpfleger beispielsweise verdienen momentan im Schnitt 2.600 € brutto.) Na, wenn dann kein Run auf die Stellen losbricht. (Oder erwarten/erhoffen sich doch manche eine andere Lösung des Problems? https://www.myview-wolfgangmebs.de/nur-alte/ )

Natürlich müssen wir über Lockerungen der massiven Einschränkungen, auch unserer persönlichen Freiheit nachdenken, aber dies sollte weiterhin äußerst behutsam geschehen. Wichtiger als Geschäfte, Kitas und Schulen wieder zu öffnen und von Sommerurlaub zu fantasieren (und ganz normal wieder im Stau zu stehen), sollte man darüber nachdenken, wie trotz Restriktionen besonders Betroffenen geholfen werden kann. Hier muss mehr Kreativität entwickelt werden (wie in manchen Altenheimen, die jetzt spezielle Besuchsräume einrichten). Wer jetzt zu schnell vorprescht, riskiert mehr als eine Rezession an Problemen mit sich bringt, die zudem mit sozial gerechter Politik aufgefangen werden können! Denn es ist zu fürchten, dass die von vielen Viro- und Epidemiologen vorhergesagte zweite Infektionswelle uns noch härter treffen wird.  Und noch mehr Menschenleben kosten wird.

Und in diese Diskussion platzt nun Wolfgang Schäuble (der übrigens selbst für nur vorsichtige Öffnungen plädiert) mit der provokanten These:

„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“

Ist das jetzt die neue Sozialeuthanasie? Die Würde der Jungen gegen das Recht auf Leben der Alten? Todesopfer für Wirtschaft, Shopping und Partystimmung? Dass Schäuble damit, wie viele argumentieren, eine notwendige Diskussion anstoßen wolle – geschenkt. Die läuft doch längst. Aber er bringt eine Sache auf den Punkt, die oft bei der Forderung nach einem Ende des Lockdown, und vielen, die Schäubles These deshalb begeistert aufgreifen, einfach unterschlagen wird: wie heilig ist uns der Schutz des Lebens wirklich, und wen und wie viele wollen wir im Interesse der Allgemeinheit sterben lassen? Herr Schäuble scheint zumindest ‚opferbereit‘ zu sein.

Zunächst einmal: ohne Leben gibt es keine Würde! Insofern kann das Leben nicht nachrangig sein. Und wenn aufgrund zu schneller Öffnungen unser Sozial- und Gesundheitssystem überlastet wird, werden Hunderte, wenn nicht Tausende nicht einmal in Würde sterben. Selbst in Deutschland.

Zweitens: wie viele Opfer wären denn hinnehmbar? Welche ‚Rate Corona-induzierter Toter‘ ist mit Artikel 1 GG noch vereinbar? Oder mit einem christlichen Weltbild? Wer wie Schäuble plakativ simplifizierend und banal feststellt, dass wir alle sterben müssen, unterschlägt, dass in diesem Fall nicht ein Verbrechen, das Schicksal oder Gott ein Leben beendet, sondern eine staatliche Entscheidung! In Kriegen ist dies der Fall, und bei der Todesstrafe.

Schlimm genug. Aber wer jetzt Wirtschaftswachstum und Psychohygiene gegen Menschenleben ausspielt, begibt sich auf einen gefährlich abschüssigen Pfad. Wollen wir in ein paar Jahren dann auch Denkmäler bauen für die heldenhaften, selbstlosen Opfer des Corona-Kriegs? (Die Kriegsvokabel ist interessanterweise schon jetzt nicht unbeliebt.) Es verbietet sich generell und erst recht jeder Regierung eine Diskussion darüber zu eröffnen, ob wir nicht den Tod eines Teils unserer Bevölkerung als akzeptables Opfer ansehen sollten, einfach weil sie das Pech haben einer momentanen Risikogruppe anzugehören. Übrigens gilt das nicht nur für alte und kranke Menschen. Jeder, der im Gesundheitswesen, bei Verkehrsbetrieben, in Geschäften etc. arbeitet, wird mit jeder Lockerung einem höheren Risiko ausgesetzt. Oberstes Prinzip muss bleiben, diese Gruppen so gut es geht zu schützen. Nachdenken sollte man nicht über hinnehmbare Opferzahlen, sondern über geeignete Strategien die einen zu schützen und gleichzeitig den anderen wieder mehr Freiheiten zu geben. Auf Schäubles gefährlichen wie fahrlässigen Satz bezogen heißt das, beides im Auge zu behalten, statt ‚akzeptablen Todeszahlen‘ den Weg zu bereiten.

Dann könnte es auch noch schneller zu Ende sein mit der letzthin so oft gerühmten Hilfsbereitschaft, mit Mitgefühl und Solidarität (die in der Praxis bisweilen ja schon an einem Paket Toilettenpapier scheitert). Die gilt ohnehin, auch in diesem Punkt bleibt und wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft alles wieder normal sein, in erster Linie national, uns selbst. Wie ist das mit der internationalen Hilfsbereitschaft? Wer kümmert sich eigentlich um die am wenigsten Geschützten, um die Mehrheit der Menschheit? Wer denkt im Moment darüber nach, Menschen in anderen Ländern zu helfen?

Bisher bekommen wir es nicht mal in Europa hin, dem Süden schnell und effektiv zu helfen, und über den Osten reden wir nicht einmal (die Gesundheitssysteme Polens, Rumäniens, Bulgariens sind katastrophal und nicht im Geringsten in der Lage Epidemien zu bewältigen). Von den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ganz zu schweigen. Für unsere Wirtschaft haben wir urplötzlich Milliarden zur Verfügung, für Europäer schon weniger, und für Kenia, Bangladesh und Ecuador? Auf diesen Kontinenten, in den Megastädten und Slums drohen unvorstellbare humanitäre Katastrophen. Es reicht nicht gründliches Händewaschen zu empfehlen, wo es nicht mal fließend Wasser gibt. Atemschutzmasken sind völlig irrelevant, wo Beatmungsgeräte und Intensivbetten Mangelware bzw. für die kleine Oberschicht reserviert sind. Tagelöhner können der neuen Zeit mit ihren Familien nicht allzu viel abgewinnen. Aber wie üblich fließen im Norden, in Europa und den USA Ströme an Geld – für den Süden bleiben nur Rinnsale.

Wenn wir verpäppelten Westler möglichst schnell wieder zu dem zurück wollen, was wir normal nennen – Konsumrausch, geilen Geiz, neues Smartphone, Auto und 2-Euro T-Shirts – dann müssen die normalen Formen und Wege der Ausbeutung reibungslos funktionieren, dann müssen die Produktionsketten wieder halten, dann darf es in Bangladesch und im Kongo keinen Lockdown geben. Wahrscheinlich würden wir den Schürfern glatt ein paar Atemschutzmasken spendieren, damit sie weiter Kobalt, Koltan und Diamanten fördern. Werden wir auch diesen Ländern erklären, dass nicht jedes Leben zählt? Werden wir ihnen etwas von der Abwägung verschiedener Menschenrechte erzählen? Derer im Norden und derer im Süden? Dass die Weltwirtschaft nun mal wieder ‚normal‘ laufen muss? Oder erklären wir vielleicht zum ersten Mal ehrlich, dass sie die Opfer bringen müssen, die unsere satte Normalität ermöglicht?

Nein, es ist zu fürchten, dass all die positiven Seiten, die die Feuilletonisten der Zeit, der FR oder der Süddeutschen der Pandemie und dem Lockdown abgewinnen können, all das Umdenken und Umsteuern, das futuristische neue Bewusstsein da bleiben wird, wo es erfunden wurde.

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2 Antworten auf „Die Zwickmühle, Schäuble und das Leben“

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