Das Positionspapier hat ja schon nichts Gutes verheißen und leider sehen sich die Pessimisten bestätigt. Dieser Koalitionsvertrag ist kein Neuanfang, kein Richtungswechsel, kein Aufbruch in vernünftigere Sozial- und Umweltpolitik. Auch in vielen anderen Feldern bleibt das meiste vage. Wunschvorstellung reiht sich an Wunschvorstellung. Vieles „soll“. Äußerst wenig ist konkret. Finanziert ist nichts. Woher das Geld für dringend notwendige Infrastrukturmaßnahmen, Wohnungsbau, alternative Technologien etc. kommen soll, steht in den Sternen. Ja, jede Partei findet sich in diesem Koalitionsvertrag wieder, jede Partei kann irgendwie punkten, und dennoch macht das Ganze den Eindruck eines FDP-Regierungsprogramms.
Zugegeben, da finden sich positive Vorhaben. Und ich meine jetzt nicht in erster Linie die Freigabe von Cannabis. Dass ein Corona-Krisenstab eingerichtet wird, statt des merkelschen mal hier ein bisschen plaudern, mal da, war längst überfällig, auch die Erhöhung des Mindestlohns ist zu begrüßen (wäre aber wohl mit jeder anderen Koalition auch gekommen), das zu niedrige Rentenniveau soll nicht noch weiter sinken und das Renteneintrittsalter nicht erhöht werden, erste (zu) vorsichtige Schritte Richtung Bürgergeld sollen gemacht, eine Kindergrundsicherung eingeführt werden. Und wenigstens ein Almosen soll es geben für Pflegekräfte.
Die Ankündigung von 300.000 neuen Wohnungen auf dem freien Markt ist reine freidemokratische Spekulation und dürfte vor allem mehr Eigentumswohnungen bedeuten. 100.000 Sozialwohnungen – vielleicht – sind wenig ambitioniert.
Die Grünen dürfen sich freuen über ein Superministerium: Wirtschaft und Klima. Aber ist das ein Erfolg? Die Zusammenlegung macht Sinn, denn die große Aufgabe der nächsten Jahre ist ja gerade die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. Aber warum dann nicht gleich Wirtschaft und Umwelt? Das war der FDP zu viel. Der Kohleausstieg bis 2030 ist nach wie vor nur „wünschenswert“ – so wie weiße Weihnachten. Alles andere ging der FDP zu weit. Und das für den Klimawandel so wichtige Verkehrsministerium bekommt – die FDP. Womit der Autostandort Deutschland gesichert bleibt und auf zukünftige eventuelle technologische Fortschritte gesetzt wird, statt auf eine klare Verkehrswende jetzt.
Immerhin sollen alle Gesetzesentwürfe auf ihre Klimawirkung überprüft werden. Erstens müssen wir mal abwarten, was bei diesen Prüfungen herauskommt. Zweitens ist völlig offen, wo im Zweifel die Prioritäten gesetzt werden. Und wie werden, drittens, eventuelle Machtkämpfe mit einem immer noch stur neoliberalen Finanzminister ausgehen? Bisher jedenfalls war das Wirtschaftsministerium eher zweite Reihe. Am Finanzminister aber kommt keiner vorbei. Vor allem nicht an einem Christian Lindner, dessen so lange gebeuteltes Selbstvertrauen durch dieses Amt und den Verhandlungssieg der FDP, seinem Sieg, gerade mächtig geboostet wird.
Vor allem aber hat sich die FDP bei zwei zentralen Zukunftsfragen marktradikal durchgesetzt: in der Sozial- und in der Steuerpolitik. Hartz IV bekommt einfach nur einen neuen Namen und bei den Sanktionen zeigt man ein freundlicheres Gesicht. Die dringend notwendige Erhöhung der Sätze, insbesondere in Anbetracht der steigenden Inflation, gibt es nicht. Ein klarer Erfolg der FDP.
Noch krasser sieht es beim Thema Steuern aus: Die werden nämlich nur ganz am Rande erwähnt! Abbau der sozialen Ungleichheit? Fehlanzeige. Gerechteres Steuersystem? Fehlanzeige. Höhere Erbschafts-, verfassungskonforme Vermögenssteuer? Fehlanzeige. Aber Lindner verkauft die Erhöhung des Sparerfreibetrags von 800 auf 1.000 als soziale Wohltat. Für mittlere Einkommen sind das 40-45 € im Jahr. Niedriglöhner merken davon gar nichts. So sieht also die neue Sozialpolitik aus in einer Koalition, die zu drei Viertel aus Parteien besteht, die sich dem linken Spektrum zurechnen.
Mit anderen Worten: Vor der Partei, die sich nach 2017 ein zweites Scheitern der Ampel-Gespräche am Allerwenigsten leisten konnte (insbesondere, da ihr Freiheitsgerede im Zusammenhang mit Corona gerade völlig ad absurdum geführt wird), sind alle anderen zu Kreuze gekrochen. Vor allem die Vertreter der Grünen haben sich als erschreckend schlechte Verhandler erwiesen. Was soll man da in den nächsten Monaten und Jahren von dieser Regierung groß erwarten?
Auf dem FDP-Parteitag wird man jubelnd zustimmen, auf dem der SPD vielleicht etwas leiser, aber auch hier ist die Absegnung sicher, schließlich ist man Kanzler. Bleiben nur noch die Grünen, die ihrer Spitze wahrscheinlich die Leviten lesen und es dabei belassen werden, da sie den Schwarzen Peter für das Scheitern der Koalition fürchten. Das könnte dann aber zu Tausenden Austritten führen, und beim nächsten Mal müssten die Grünen um den Wiedereinzug in den Bundestag fürchten. Und auch bei den nächsten Landtagswahlen werden sich die Leute fragen, warum man eine Partei wählen soll, die viel redet, aber zu wenig durchsetzt. Das gäbe den Überlegungen, eine neue Umweltpartei zu gründen, zusätzlichen Auftrieb und würde zur weiteren Zersplitterung unseres Parteiensystems beitragen.
Die Frage bleibt natürlich: Was sonst? Gerade auf dem Höhepunkt der vierten Welle die Übergangsregierung mit der amtsmüden Politikverwalterin und dem unsäglichen Jens Spahn weiterwursteln zu sehen, ist wahrhaftig eine gruselige Vorstellung. Andererseits hätten die Wähler die Möglichkeit, sich noch einmal genau zu überlegen, wohin es denn in Zukunft gehen soll. Leider wird aber genau dieser Punkt die Grünen von diesem mutigen Schritt abhalten, da sie sich mit ihrem Verhandlungsergebnis wahrlich kein Vertrauen erworben haben.
Eines aber scheint mir sicher: Eine Koalition, in der der kleinste Partner die Richtlinienkompetenz besitzt, wird von der ersten Minute an mit massiven Konflikten zu kämpfen haben, sich selbst zu einem Verein zur Förderung des Formelkompromisses degradieren und wenig bewegen. Sie wird wahrscheinlich, was in diesem Falle auch zu hoffen ist, nicht lange durchhalten. Die einzige Frage wird sein, wann SPD oder Grüne einen geeigneten Anlass finden, dem Trauerspiel ein Ende zu bereiten.
Nein, geben wir es zu, so unrecht hatte Christian Lindner nicht, als er sagte, es sei besser, nicht zu regieren als schlecht.