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Moralweltmeister

Manche Menschen entlarven sich selbst am besten. So verkündete Christian Lindner: „Wir wollen nicht Moralweltmeister werden.“

Nun, überraschen dürfte es natürlich niemanden, dass Moral bei der FDP nicht besonders hoch im Kurs steht. Dazu reicht ein Blick auf ihr Partei- und vor allem ihr Wirtschafts- und Steuerprogramm. Den erhobenen Zeigefinger sieht man bei Lindner, Kubicki und Co. nur, wenn von höheren Steuern für Spitzenverdiener die Rede ist. Oder von angeblich fehlenden Leistungsanreizen für Sozialhilfeempfänger.

Darüber hinaus ist es aber durchaus bemerkenswert, dass Herr Lindner zu dieser perfiden Art von Moralkeule greift, die ja zum einen allen grünen und linken ‚Gutmenschen‘ vorwirft, sich zu sehr an ethisch-sittlichen Grundsätzen zu orientieren, statt an der Realität, vor allem aber an ökonomischer Zweckmäßigkeit im Interesse von Konzernen und Gutverdienenden. Zum anderen geht er wohl davon aus, dass zumindest bei den potenziellen Wählern seiner Partei Moral eher als Schimpfwort empfunden wird und sich Stimmen damit gewinnen lassen, moralische Prinzipien lächerlich zu machen. Damit könnte er durchaus recht haben. Aber damit sagt er auch in dankenswerter Offenheit, wes Geistes Kind er ist und wen man da wählt.

Zur Erinnerung: Von allen Steuerkonzepten würde das der FDP am meisten Geld in die Taschen der Gut- und Bestverdienenden spülen. So soll der Spitzensteuersatz erst ab einem zu versteuernden Einkommen von satten 90.000 (statt momentan rund 57.000) Euro greifen. Bisher waren davon nicht einmal 10 % aller Arbeitnehmer betroffen! Menschen, die knapp darunter oder darüber liegen, werden im FDP-Programm übrigens als „Durchschnittsverdiener“ bezeichnet. Aber es wäre ja auch zu viel Moral, bei der Wahrheit zu bleiben.

Und was Lindners Realitätssinn angeht: Ungeachtet der historisch höchsten Staatsverschuldung der BRD durch die Pandemie (und weiterer Milliardenkosten durch Umweltkatastrophen; das letzte Unwetter wird nicht das letzte sein) verspricht er Steuerentlastungen von 60 Milliarden Euro. Die werden sich in der Märchenwelt der FDP wie von selbst finanzieren, durch (vielleicht) mehr Wachstum und (vielleicht) mehr Jobs (im Niedriglohnbereich) und höhere Gewinne, die noch niedriger besteuert werden. Kein Schelm, der ahnt, wo dann, moralreduziert,  gespart werden soll.

Nicht viel anders verhält sich gerade unsere Bundesregierung gegenüber den afghanischen Hilfskräften. Aktuell geht um rund 4.500 afghanische Mitarbeiter der Bundeswehr (und ihre Familien), die die deutschen Truppen in vielfältiger Form bei ihren Einsätzen unterstützt haben und deshalb schon lange im Fadenkreuz der Taliban stehen. Schon seit Jahren werden Anschläge auf die ‚Verräter‘ verübt, aber jetzt, da die deutschen Soldaten abziehen und die Taliban stündlich stärker werden, potenziert sich die Gefahr für diese Menschen. Alle Experten rechnen damit, dass die Taliban in Kürze versuchen werden, den Flughafen in Kabul zu besetzen, um damit die letzte reguläre Möglichkeit, das Land zu verlassen zu unterbinden.

Aber die Bundesregierung tut so gut wie nichts, um diese Menschen zu schützen. Erst 2.400 von ihnen hat man ein Visum ausgestellt. Laut Auswärtigem Amt ein leider sehr schwieriges Verfahren. Kein Wunder, nachdem man das Generalkonsulat in Masar-i-Sharif geschlossen hat – um deutsche Mitarbeiter in Sicherheit zu bringen.

Und das war’s dann. Wie sie nach Kabul kommen, woher sie das Geld für den Flug nehmen, ist allein ihre Sache. Ist ja auch kein Problem. Einfach in den gepanzerten SUV setzen, mit der gesamten Familie gemütlich z. B. von Masar-i-Sharif, wo sich das zentrale Feldlager der Bundeswehr befand, über 400 km durch von Taliban kontrollierte Regionen fahren, am Flughafen einfach Tickets für ein paar Hundert Euro pro Person kaufen und ab geht es in die Freiheit. Bisher haben das nur rund tausend geschafft. 2.000 ehemalige afghanische Mitarbeiter haben nicht einmal ein Visum bekommen. War ja auch nicht mit zu rechnen, mit dem Abzug. Kam ja aus heiterem Himmel.

Von all dem sollen Frau Kamp-Karrenbauer und Herr Maas keine Ahnung gehabt haben? Haben sie in all ihrer staatspolitischen Hektik übersehen? Hat ihnen keiner gesagt? Oder war es ihnen schlicht egal?

Wie hätte eine humane, moralisch angemessene Reaktion aussehen können? Immerhin geht es um die Menschen, ohne die ein ohnehin fragwürdiger Einsatz noch weit weniger funktioniert hätte. Und die dabei ihr Leben und das ihrer ganzen Familie aufs Spiel setzten!

Man hätte sie problemlos in Sicherheit bringen können, indem man jeden, der das Land verlassen will, direkt mit den deutschen Soldaten nach Kabul gebracht und ausgeflogen hätte. Indem man sofort bei der Planung des Abzugs Visa für alle ausgestellt hätte. Indem man ihnen nach ihrem lebensgefährlichen Einsatz für Deutschland die deutsche Staatsbürgerschaft angeboten oder zumindest ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt hätte. Das wäre ein Akt echter staatspolitischer und moralischer Verantwortung gewesen.

Moralweltmeister? Ich würde sagen: In beiden Fällen nicht einmal Kreisklasse!

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