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Hoffnung – Antworten auf den Fragebogen von Max Frisch – Teil 3

Einleitung siehe: https://www.myview-wolfgangmebs.de/jahresendlich-besinnliches/

Frage 8:    Hoffen Sie angesichts der Weltlage:

                        a) auf die Vernunft

                        b) auf ein Wunder?

                        c) dass es weitergeht wie bisher?

‚C‘ auf keinen Fall, denn das würde voraussetzen, dass die aktuelle Weltlage gut und erhaltenswert ist. Wozu hat die Entwicklung der letzten Jahrzehnte geführt? Zu Entsolidarisierung, zu Egozentrismus statt Individualismus, zu einem Revival nationalistischer, autokratischer und faschistischer Strömungen, zu massenhafter Migration, zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.

Und zu Corona.

WUNDER gibt es nicht. Nur Zufälle. Und Ereignisse, dessen Ursachen wir nicht zu erklären in der Lage sind, weil wir die ihnen zugrunde liegenden Mechanismen noch nicht kennen. Wer auf Wunder hofft, kann lange warten. Wer auf Wunder hofft, wird nicht selbst aktiv.

Bleibt die VERNUNFT. Wirklich? Der Mensch ist ein mehr oder weniger intelligentes Tier. Es ist vernunftbegabt. Begabt! Leider macht es zu wenig daraus. Sonst wäre die Weltlage nicht, wie sie ist. Sonst hätte es die Inquisition nicht gegeben, keinen 30-jährigen Krieg, keinen Holocaust. Es gäbe keinen Genozid, keine Massenvergewaltigung, keine Folter, keine Fassbombe. Pole und Gletscher würden nicht schmelzen, unwirksame Antibiotika und Allergien nicht zum Normalfall werden, Schildkröten und Wale nicht an Plastik verenden. Aber das Animalische besiegt ein ums andere Mal die Vernunft, die egozentrische Emotion die Intelligenz, das kurzfristige „Ich will“ das langfristige “Wir sollten“.

Und wie schnell so mancher bisher als einigermaßen vernünftig eingeschätzter Zeitgenosse angesichts einer neuen, unheimlichen und existenziellen Bedrohung zum Verschwörungsmystiker mutiert, beweist, wie empfindlich das zarte Pflänzchen Vernunft ist, wie schnell ihm die Nährstoffe entzogen werden können und die vom Verschwörungsvirus Befallenen zu einer weiteren Bedrohung für ihre Mitmenschen werden können.

Gleich alle Hoffnung fahren lassen muss man, wenn man berücksichtigt, dass Frisch in seiner Frage eine allgemeine Übereinkunft unterstellt darüber, was vernünftig ist. Dahinter steht die Vorstellung einer Art kategorischen Imperativs. Rein subjektiv ist die Ausbeutung rumänischer Wanderarbeiter aber sehr vernünftig, erhöht Tönnies dadurch doch seinen Profit. Die Sklaverei hat Amerika den ökonomischen Aufschwung gebracht. Der Export von Elektroschrott nach Afrika vergiftet nicht uns und verseucht nicht unsere Umwelt. Und spart uns obendrein Geld. Was langfristig oder für andere unvernünftig ist, kann aktuell für den Einzelnen oder einzelne Gruppen sehr viel Sinn machen.

Hinzu kommt: Die Vernunft ist höchst ungleich verteilt, und es sind meist nicht gerade die Weisen und die Vernunft Praktizierenden, die an die Hebel der Macht gelangen. Hoffen könnte man also nur darauf, dass demnächst Politiker und Wähler, Konsumenten und Produzenten, Junge und Alte, Christen und Muslime wie durch ein Wunder ihre Begabung zur Vernunft entdecken und hegen und pflegen.

Aber ich glaube weder an Weihnachtsmärchen noch an gute Feen oder die Heinzelmännchen.

Aber ich glaube an Yin und Yang. Uns werden Gut und Böse, Empathie und Eigensucht erhalten bleiben. Wirkliche Hoffnung kann man nur darauf setzen, dass es uns gelingt, erzwungen durch die mit unseren Umweltproblemen verbundene Verschärfung aller Konflikte und die endgültige existenzielle Bedrohung, eine Gesellschaft zu etablieren, in der jeder Einzelne die Chance hat und die große Mehrheit sie auch nutzt, selbst zufrieden zu leben und anderen das Gleiche zu ermöglichen.

Dass ich die Chancen dazu momentan nicht besonders hoch einschätze, lässt mich aber nicht verzweifeln. Ich lebe trotz all dem ein fröhliches Leben. Denn ich bin privilegiert. Ich habe die ‚richtige‘ Hautfarbe und lebe in einem Land, in dem man hoffen darf und unzählige Hoffnungen haben kann, die sich sogar verwirklichen lassen. In dem sich die Zukunft nicht darauf beschränkt, den nächsten Luftangriff zu überleben, meine Kinder nicht verhungern zu sehen oder auf dem Weg nach Hause von einem Polizisten ermordet zu werden. In einem Land, in dem die Hoffnung, die gegenwärtige Pandemie zu überleben, vergleichsweise hoch ist.

Und ich hoffe, dass das so bleibt.

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